Der Moloch: Roman (German Edition)
die Felsspitzen aus dem Grau heraus.
Sie drehte sich wieder zur Werkstatt und ihrer Arbeit um. Der Dachboden war hell erleuchtet und farbenfroh. Platten aus buntem Glas lehnten an Wänden und den tief reichenden Fenstern. Sie brachen das Sonnenlicht und warfen es in tausend funkelnden Flecken aus Rot und Ocker und Blattgrün auf die verputzten Wände. Auf einem großen Eichentisch mitten im Raum lagen die Scheiben für das Fenster, an dem sie gerade arbeitete. Es war eine lange, schmale Scheibe, die ein fetter Kaufmann aus Otaro für sein Heim in Auftrag gegeben hatte. Sie betrachtete ihr Werk kritisch, aber dennoch stolz. Ganz oben auf der Scheibe aalte sich ein silberner Leviathan in sonnendurchfluteten Gewässern. Eine Fontäne aus Gischt sprühte aus seinem Kopf. Am Fuß der Fensterscheibe dagegen kroch ein grünhäutiger Gigant der Tiefe über goldenen Sand und streckte seine Tentakeln vor sich aus. Zwischen den beiden Monstern schwamm eine brodelnde Masse von Fischen in allen Farben des Regenbogens, eingerahmt von den sich wiegenden Blättern blühender Meerespflanzen.
» Wo hast du je so bunte Fische gesehen?«, hatte ihr Vater sie gefragt in dem Glauben, dass sie noch nie das Meer gesehen hätte und auch sonst niemanden kannte, der schon einmal dort gewesen war.
Sie hatte nur mit den Schultern gezuckt. Sie hatte genug Fische an den Buden der Fischhändler gesehen, deren Schuppen in den wunderbarsten Schattierungen von Rosa und Grün und Braun geglänzt hatten. Sie stellte sich vor, dass sie im Tod ihre Farben verloren hatten, so wie es auch die Menschen taten, und dass sie im Leben in den schönsten Farben geglänzt hatten, die es auf der Palette der Götter gab. Also schuf sie grüne Fische mit goldenen Streifen, rote Fische mit blauen Köpfen und Schwärme von winzigen Fischen in allen möglichen Schattierungen von Gelb, die nur sie anmischen konnte. Jeder von ihnen hatte schwarze Rückenflossen. Der Leviathan hatte goldene Zähne und der Krake blaue Augen. Das Meer selbst bestand aus getupftem Silber, doch das ging in der wirbelnden Collage von Bewegung und Farben unter.
Das Fenster war fast fertig. Die meisten einzelnen Glasscheiben waren bereits bemalt und gebrannt und lagen an ihrem Platz auf dem breiten Tisch in der Mitte. Sie musste noch zwei Abschnitte vervollständigen, sehr wichtige Abschnitte am Fuß der Scheibe, die sich in der Wand des Kaufmannshauses in Augenhöhe befinden würden. Zum einen die Spitzen der Tentakel des Kraken, Grün auf Gelb. Und dann ihre Signatur. Wenn schließlich die letzten Scheiben im Ofen gebrannt worden waren und die Farbe auf dem Glas fixiert war, würde Frayling ihr helfen, die Bleifassung zu schneiden und zu löten, die das ganze Werk zu einem Stück verbinden würde.
Sie ging zu dem mittlerweile abgegriffenen und verblichenen Originalgemälde in Wasserfarbe, das sie vor mehr als einem halben Jahr an die Wand geheftet hatte. Sie betrachtete es eine Weile, dann kehrte sie wieder zu dem Tisch mit dem Glas zurück. Sie schloss die Augen, lockerte die Schultern, beruhigte ihre Gedanken und versenkte sich in die Kreaturen auf der Scheibe. Sie stellte sich die Tentakel vor, ihre sehnige, gummiartige Kraft. Sie sah, wie sie den Sand berührten, ausgriffen, tasteten.
Dann hörte sie Schritte auf der Leiter, ein Stolpern und einen Fluch. Sie runzelte ein wenig die Stirn und ließ zu, dass ihre Gedanken wieder in die Werkstatt zurückkehrten.
» Dieses Jahr werde ich eine Treppe bauen lassen, bei allen verfluchten Göttern!« Der Kopf ihres Vaters tauchte auf mit seinem grauen zerzausten Haar. Er kämpfte sich mühsam die restlichen Sprossen hinauf in die Werkstatt.
Sie lächelte und sah ihn skeptisch an. Er bemerkte ihre Miene. » Ich weiß, ich sage das jedes Jahr«, gab er zu. » Aber diesen Sommer mache ich es, das schwöre ich. Frayling will uns verlassen, wenn er noch viel mehr Glasscheiben hier heraufschleppen muss.«
Sie sah ihn liebevoll an. Er hatte kein bisschen Rot mehr in seinem Haar, und sein Gesicht war faltig vom Alter und von traurigen Erfahrungen. Er wich ihrem Blick aus und sah auf den Boden. Als er weitersprach, zögerte er hörbar. Sie konnte erraten, was er sagen würde.
» Der Diener des Kaufmanns war hier. Er will, dass du zu seinem Haus kommst, um das Einpassen des Fensters zu überwachen.«
Eine Welle der Panik durchfuhr sie, und sie schüttelte den Kopf. » Du«, flüsterte sie flehentlich.
» Ich weiß, dass ich das kann«, antwortete
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