Der Moloch: Roman (German Edition)
Carvelho war bereits dort. Bartellus hatte auch nichts anderes erwartet.
» Bartellus!«, begrüßte ihn sein Assistent, als er hochsah und ihn erblickte. » Ein wirklich schöner Tag!«
Carvelho war ein ehemaliger Infanterist der Maritimen gewesen, der vor zehn Jahren als Invalide ausgemustert worden war. Er war in den Vierzigern, schlank und muskulös und wirkte mehr wie ein Straßenkämpfer denn wie ein Akademiker. Jedenfalls so lange, bis einem auffiel, dass ein Arm oberhalb des Ellbogens amputiert war. Er lebte von dem kleinen Honorar, das Bartellus ihm zusätzlich zu seiner Pension bezahlte, und wohnte mit seiner Frau und drei Kindern irgendwo in den Quartieren der Bibliothek. Carvelho liebte seine Arbeit, und obwohl er vermutete, dass das eigentliche Interesse des alten Mannes nicht dem galt, was er vorgab, ließ er sich dies nicht anmerken.
» Wieso?«
» Ich habe in diesem Buch hier«, Carvelho winkte mit einem Manuskript, das, wie Bartellus wusste, das Arbeitsjournal eines Höflings im östlichen dravidianischen Imperium vor zweitausend Jahre gewesen war, » eine Anspielung auf den dritten dravidianischen Imperator gefunden …«
» Argipelus.«
» Ja, Argipelus, der einen Brief an Mohastidies geschrieben hat …«
Bartellus runzelte die Stirn, als er sich zu erinnern versuchte. Richtig, ein früher Kaiser der Cité.
» Er hat um grünen Marmor für seinen Palast gebeten.« Carvelho grinste schief, und Bartellus lächelte ebenfalls. Sein Mitarbeiter glaubte, dass seine eigenen Vorfahren ursprünglich aus den äußeren Provinzen des dravidianischen Imperiums über das Kleine Meer hierhergereist waren. Die Geschichte der Zivilisation faszinierte ihn, und es freute ihn immer, wenn er ein verschollenes Bindeglied zur Cité fand. » Wenn wir diesen Brief finden könnten, das wäre ein Durchbruch!«
» Allerdings.« Bartellus setzte sich an den Tisch. » Aber zunächst habe ich einige Themenbereiche für dich eingegrenzt.« Das sagte er immer, jeden Tag. Er reichte Carvelho ein Blatt Papier. Der jüngere Mann warf einen Blick darauf, nickte und ging freudestrahlend zu dem riesigen Regal mit den Schubfächern in der Mitte des Raumes, das durch Planen geschützt war. Dort lagen Tausende von Kästen mit Karteikarten über die Bücher dieser Bibliothek, ihre Themen und ihren Standort. Irgendwann, noch vor Ende des Tages, würde er mit einer Liste von zwanzig oder dreißig Büchern zurückkehren, und dann würden sie beide sie etwa auf ein Dutzend Bücher reduzieren, die sie bei den Bibliothekaren bestellen würden. Sie würden am nächsten Tag von den Angestellten mit den Rollwagen gebracht werden. Diese Arbeit würde Carvelho den Nachmittag über beschäftigen, sodass Bartellus ungestört die Bücher studieren konnte, die sich bereits vor ihm auftürmten. Sechs von sieben dieser Bücher waren für den alten Mann nicht von Interesse; sie dienten nur als Ablenkung für Carvelho und jeden anderen, der mehr als ein flüchtiges Interesse für Bartellus’ eigentliche Suche zeigte.
Als Emly und er vor acht Jahren aus der Finsternis der Abwasserkanäle aufgetaucht waren, hatte er nicht vermutet, dass er je wieder an die Hallen und ihre elenden Kloaker denken würde. Aber die Worte der schon so lange toten Ysold ließen ihn nicht los. Die Frau hatte ihm in ihrer Todesstunde gesagt, dass das Gierwehr allmählich zusammenbrach und nicht mehr repariert wurde und dass irgendwann die gesamte Stadt deshalb überflutet werden würde. Bartellus fragte sich unwillkürlich, warum eine Aufgabe, die man einmal für so wichtig gehalten hatte, dass man immer wieder Trupps von Ingenieuren in die gefährlichen tieferen Hallen geschickt hatte, plötzlich aufgegeben worden war. Er war selbst eine Art Bürokrat gewesen, und er wusste, dass es vermutlich einfach nur ein Fehler war, ein übersehenes oder verloren gegangenes Formular oder aber einige Tausend Talente, die jemand in seinem Budget hatte sparen wollen.
Da er nichts zu tun hatte, war er eines Tages in die Große Bibliothek spaziert, um herauszufinden, ob er irgendetwas über das Wehr finden konnte. Er war hoffnungslos in die Falle getappt. Nachdem er einige Monate lang über die verlockenden Pfade der Geschichte flaniert war, hatte er das Journal eines Ingenieurs namens Miletos gefunden. Dieser Mann hatte seine Arbeit geliebt. Sein Humor und seine Intelligenz schimmerten immer noch aus den staubigen Pergamenten und der verblassten Tinte heraus. Der Mann hatte das Gierwehr
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