Der Moloch: Roman (German Edition)
hatte eine Regimentstätowierung auf dem Rücken, jedenfalls sah sie so aus. Eine springende Ziege mit einer Schlangenzunge.«
Die beiden anderen Männer lachten. » Eine Ziege?«
Bartellus zuckte mit den Schultern. » Das ist nicht ungewöhnlich«, erklärte er. » Es ist falsche Bescheidenheit. In Wirklichkeit halten sie sich für Löwen oder Adler, aber sie benutzen das Symbol einer übermütigen Ziege, um zu zeigen, dass sie es nicht nötig haben zu prahlen, sondern dass sie mehr daran interessiert sind herumzuhuren. Es ist falsche Bescheidenheit«, wiederholte er, » und nicht besonders feinsinnig. Andererseits sind Soldaten auch nicht gerade für ihre Feinsinnigkeit bekannt.«
» Du kennst also diese Tätowierung?«
» Nein. Ich habe schon ähnliche Symbole gesehen, aber nicht diese springende Ziege mit einer zuckenden, gegabelten Zunge.«
» Aber du glaubst, er war ein Soldat?«
» Er ist auf jeden Fall irgendwann mal Soldat gewesen, davon bin ich überzeugt. Ich habe seine Schlachttätowierungen erkannt. Aber man hatte ihm die Zunge herausgeschnitten.«
» Ein Spitzel«, sagte Dol gewichtig und nickte bestätigend.
» Mag sein«, erwiderte Bartellus. » Aber hier kommt das Rätsel. Einige Soldaten tragen ein einfaches Symbol auf dem Oberarm oder der Schulter. Aber die meisten ihrer Tätowierungen sind unter der Kleidung oder der Rüstung versteckt und befinden sich nicht auf Armen oder Beinen. Unter Soldaten würde es als vulgär gelten, wenn man seine Gliedmaßen mit Tätowierungen bedeckt. Das ist nur etwas für Sklaven, Frauen oder Fremde.«
» Aber dieser Mann hat es gemacht?«
» Nein. Seine Arme und Beine wiesen keinerlei Tätowierungen auf. Aber seine Kopfhaut war rasiert, und er hatte überall kleine Tätowierungen, vom Haaransatz bis in den Nacken hinunter. Und warum sollte jemand seine Arme und Beine um seinen Hals frei lassen, dafür aber seinen ganzen Kopf mit Tätowierungen bedecken?«
16
Die Große Bibliothek war eine Stadt für sich. Erbaut vor über einem Jahrtausend erstreckte sie sich über etliche Morgen Land und schloss die Wohnquartiere von Arbeitern und Verwaltern und Aufsehern ein. Sie enthielt Speisesäle, Küchen, Stallungen und eine Schmiede, Gärten, zwei Seen und einen ganzen Flügel für ausländische Besucher, der jetzt jedoch zum größten Teil unbewohnt war. Und dazu Lagerräume, Hunderte davon, in denen sich Tausende von Büchern in vielen Stadien der Erhaltung oder des Verfalls stapelten. Allein die Geschichte der Bibliothek zu studieren, hätte ein ganzes Leben erfordert, und man sagte, dass im Laufe der Jahre viele alte Männer, die als Invaliden aus der Armee ausgeschieden waren und viel Zeit hatten, ihre letzten Jahre mit der Arbeit daran verbracht hatten. Viele von ihnen hatten ihre eigenen Texte produziert und damit zu den Millionen von Worten beigetragen, die zu diesem Thema bereits existierten, die meisten davon ungelesen und unbeachtet.
An dem langen Nachmittag ging Bartellus wie immer in den Hauptlesesaal, eine riesige Kammer aus Licht und Schatten, deren uraltes Dach von Hunderten hoher Steinpfeiler gestützt wurde. Das grüne Glasdach war jahrhundertealt und musste ständig repariert werden. Statt also ein ruhiger Zufluchtsort für Gelehrte zu sein, war die Kammer der Pfeiler häufiger ein Ort, an dem es laut und dynamisch zuging, und überdies auch gefährlich. Die Arbeiter gingen ihrer Tätigkeit hoch oben unter der Decke nach, redeten und stritten miteinander und schrien auch gelegentlich eine Warnung hinab, wenn ein Werkzeug oder ein Stück Glas hinunterfiel. Unten auf dem Boden gingen ständig Bibliothekare herum, Frauen und Männer in hellgrünen Kitteln, die kleine hölzerne Karren voll beladen mit Büchern vor sich herschoben. Die Räder der Wagen klickten unrhythmisch auf den Steinplatten des Fußbodens. Die hohen Fenster an den Seitenwänden der Halle waren aus grünem und gelbem Glas, sodass das Licht in der Kammer wirkte, als befände man sich unter Wasser, was eine unbehagliche Atmosphäre erzeugte. Wenn es regnete, hörte man das permanente Platschen und Plätschern von Wasser, das in die vielen rostigen Gefäße tropfte, die in jedem Gang und jeder Ecke aufgestellt waren.
Die Halle war im Winter eiskalt und im Sommer unerträglich heiß. Bartellus fand die Atmosphäre sehr belebend, und er ging beschwingt zu seinem gewohnten Tisch, der mitten in der Halle stand und von zwei mit Steinmetzarbeiten verzierten Pfeilern flankiert wurde.
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