Der Mond im See
schmeckte – auf einmal wußte ich es: Etwas würde geschehen.
Erst am nächsten Tag, so nachmittags gegen vier, langte ich in Wilberg an. Ich hatte das Trödeln nicht lassen können. Lange geschlafen, ein spätes Frühstück, und dann war ich gemütlich um den Bodensee gebummelt. Überlingen, Radolfzell, durchs liebliche Hegau, Schaffhausen, über die Grenze kam ich sogar mehrmals, sie verlief hier in eigenwilligen Bögen, und offensichtlich störte sich kein Mensch daran, ich feierte Wiedersehen mit dem jungen Rhein, speiste ausgezeichnet in einem kleinen Landgasthaus und saß danach noch eine Weile im hellen Sonnenschein neben meinem Wagen am Waldrand.
Albern, wie ich mich benahm. Hatte ich wirklich Angst, nach Hause zu kommen? Vor was eigentlich? Vor wem? Ich war doch kein Junge, der die Schule geschwänzt hatte, sondern ein erwachsener Mann, der ordentliche Arbeit geleistet und gutes Geld damit verdient hatte. Aber ich redete mir nur ein, ich dürfe nicht zu früh ankommen, dürfe Tante Hilles Mittagsschlaf, der zwischen zwei und drei stattfand – nachdem sie gegessen und das Blättle gelesen hatte –, nicht stören. Das konnte ihr die Laune verderben, wie ich mich gut genug erinnerte.
Dann endlich war es soweit. Von der Straße, die auf dem Hochufer entlanglief, sah ich den See unten blitzen, groß und weit und das klare Himmelsblau spiegelnd, die Bäume trugen helles junges Grün, in den Gärten der Bauernhäuser blühten die ersten Sommerblumen. Von der Schmalseite des Sees aus konnte ich das Schloß liegen sehen, und hier trat ich noch einmal auf die Bremse, verhielt eine kleine Weile am Straßenrand und blickte hinunter.
Ein schöner Bau, auch heute noch, mit meinen mittlerweile weitgereisten Augen gesehen. Wuchtig, grau und trutzig der alte Teil, die ehemalige Burg, und im rechten Winkel drangebaut die edle, strenge Renaissancefront, die später dazugekommen war. Nichts hatte sich verändert. Absolut nichts. Ich glaubte sogar von hier aus die riesigen Kronen der alten Kastanienbäume im Schloßgarten zu erkennen. Schade, ich kam zu spät, die Blüte war vorüber.
Und hier noch einmal, zum letztenmal, packte mich der unvernünftige Wunsch, umzukehren, den Wagen zu wenden und zu flüchten. Zu flüchten vor meiner Jugend, meinen Erinnerungen, vor Tante Hilles prüfendem Blick, vor – ja, vor Annabelle, dies vor allem.
Ich schüttelte den Kopf über mich selbst. – Meine Jugend war schön gewesen, ein wenig Liebeskummer gehörte wohl zu jedermanns Jugenderinnerungen, Tante Hille, so uralt inzwischen geworden, würde mich kaum mehr prüfend anblicken, und Annabelle – war gar nicht da.
Einfach lächerlich, wie ich mich benahm. Ich löste den Blick vom Schloß, peilte statt dessen den spitzen Kirchturm der Dorfkirche von Wilberg an, und weiter ging die Fahrt.
Die Straße, die sich durch den Ort wand, war breiter geworden und asphaltiert, tadellos gepflegt. Ich sah neben Altvertrautem neue Häuser, die ich nicht kannte, ein paar große und mächtig herausgeputzte Läden, und mir begegnete – was mich am meisten verwunderte – eine Anzahl großer Automobile. Sie kamen mir entgegen, überholten mich. War etwa der Fremdenverkehr inzwischen hier eingekehrt? Nicht auszudenken. Als aus einer Seitenstraße ein langbeiniges Girl in weißen Shorts, einen Tennisschläger unterm Arm, lässig angeschritten kam, konnte ich daran nicht länger zweifeln. Sie bestieg einen roten Zweisitzer, der vor mir am Straßenrand hielt und auf den ich vor lauter Erstaunen beinahe aufgebrummt wäre, und brauste flott vor mir her.
Hm. Die neuen Häuser. Vielleicht Landhäuser reicher Leute aus Zürich und Luzern. Aber die hatten dort selber See und Landschaft genug, die waren früher auch nicht zu uns herausgekommen. Und ein vernünftiges Hotel hatte es in Wilberg sowieso nie gegeben. Ein paar gemütliche Gasthäuser, wo man auch wohnen konnte, in weichen sauberen Betten schlafen und vorzüglich essen natürlich, aber kaum doch das, was die Leute, die sich in Shorts und roten Coupés bewegten, als Behausung bevorzugten. Da hatte man wohl ein Hotel gebaut hier irgendwo in der Nähe.
Na ja, warum auch nicht. Reisen war große Mode. Außerdem fiel mir auf, daß die meisten der Wagen, die ich sah, deutsche Nummern hatten. Und die Deutschen fuhren nun mal überall hin, wo nur so etwas Ähnliches wie Gegend zu entdecken war. Keine Berge hier, nur Hügel, aber schöner grüner Wald, fette Wiesen, wunderbares Rindvieh drauf,
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