Der Mond im See
anheimgestellt, sich Rede und Gegenrede in echtem unverfälschtem Schwyzerdütsch erklingen zu lassen. Erst dann wird er den rechten Genuß an dieser Erzählung haben.
Ich jedoch will mich von jetzt an streng ans Hochdeutsche halten.
Aus der Tiefe des Gartens kam Tante Hille herbei, umtrippelt vom Gretli, das auf sie einredete. Meine Tante ging meinetwegen keinen Schritt schneller. Und wie sie da kam, erging es mir wie beim Anblick von Haus und Garten: Die Zeit schien stehengeblieben.
Sie war klein, schmal und zierlich wie früher auch, aber geradeaufgerichtet schritt sie daher, sie trug einen glockigen schwarzen Rock, der ihr fast bis zum Knöchel reichte, und eine hochgeschlossene weiße Bluse. Auf dem Kopf thronte ein breiter gelber Strohhut, jede Wette, es war der gleiche, den sie früher schon getragen hatte, wenn sie bewaffnet mit Gartenschere, Hacke, Körbchen oder was weiß ich noch in die Tiefen des Gartens verschwunden war.
Ich schluckte. Dann ging ich ihr entgegen. Unter den Apfelbäumen neben den grauen Gartenhäuschen trafen wir uns. Sie blieb stehen, ich blieb stehen, die dunkelbraunen Augen musterten mich prüfend und streng. – Prüfend und streng, ich wiederhole das – wie früher auch, dann lächelte sie und sagte herzlich: »Grüezi, Bub. Herzlich willkommen daheim.«
Wir reichten uns die Hand, und dann tat ich etwas, was ich keineswegs vorgehabt hatte: Ich nahm die zierliche kleine Person in beide Arme und drückte sie fest an mich. Und dabei, nicht zu fassen, aber es ist die Wahrheit, dabei wurden mir die Augen feucht.
Sodann gingen wir alle drei ins Haus, in dem es kühl und dunkel war. Ich fand alles unverändert, die große Diele, weit und geräumig. So viel Platz hatte man heute nicht in einer ganzen Neubauwohnung, wie allein in diesem alten Haus die Diele in Anspruch nahm. Auch die Anordnung der Zimmer war unverändert, in der Mitte, mit den Fenstern zur Straße und mit Blick auf den See, der sogenannte grüne Salon, daneben rechts, Großvaters Zimmer, und links vom grünen Salon das sogenannte Wohnzimmer, mit Fenstern nach vorn und nach der anderen Seite hinaus. Hier wurde auch gegessen, hier hielt sich die Familie meist auf, wenn man zusammensaß und kein Besuch da war, und hier stand – von mir mit großer Verwunderung betrachtet – ein Fernsehapparat. Links davon, mit Fenstern zum Garten hinaus und nach der Seite, waren die riesige Küche und die Vorratskammer, und auf der gegenüberliegenden Seite der Diele das Zimmer, in dem ich früher meine Schulaufgaben und Maman ihre Näharbeiten gemacht hatte und in dem jetzt, wie ich später erfuhr, das Gretli schlief. Und außerdem lagen hier ein Badezimmer und eine Toilette. Daneben ging die breite solide Treppe ins Obergeschoß. Unter der Treppe befand sich die Kellertür. Im ersten Obergeschoß waren die Schlafzimmer, ebenfalls nochmals Bad und Toilette, unter der Treppe das sogenannte Apfelkammerli, neben der Treppe das Besenkammerli. Die Treppe ging weiter ins zweite Obergeschoß, hier waren noch zwei Zimmer, ein paar Kammerli und der Boden.
Aber das alles besichtigte ich natürlich nicht zugleich. Zuerst nahmen wir im Wohnzimmer Platz. Zur Begrüßung gab es einen Pflümli, dann wurde ich gefragt, ob ich etwas essen wolle oder einen Kaffee bevorzuge, und als ich sagte, ein Bier wäre mir lieber, denn es sei ein warmer Tag und die Fahrt hätte mir Durst gemacht, bekam ich ein schönes kühles Bier und noch einen Pflümli dazu.
Tante Hille und ich saßen uns in den beiden alten, unerhört bequemen Sesseln gegenüber, die vor den Frontfenstern standen, zwischen uns der kleine runde Tisch, auf dem – wie früher auch – sich ein Körbchen befand, auf dem ein Strickzeug hervorlugte, und daneben das Blättli, das Tante Hille täglich zu lesen pflegte. Wir betrachteten uns, während das Gretli hin und her schusselte und alles herbeizauberte, was gebraucht wurde. Sie hatte rote Bäckchen vor Aufregung, ihre Hand, die mir den Schnaps eingoß, zitterte ein wenig, und ein paar Tropfen landeten auf der blanken Nußbaumplatte des Tischchens.
Tante Hille machte strafend: »Ts, ts, ts!« und schüttelte ein wenig den Kopf.
»Excusez«, murmelte das Gretli und verschwand nach draußen.
»Sie wird alt«, stellte Tante Hille ungerührt fest.
Was hieß, sie wird alt? Ich rechnete geschwind nach und kam zu dem Ergebnis, daß das Gretli mindestens – mindestens! – achtzig sein mußte. Und Tante Hille war, das wußte ich zufällig,
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