Der Mond im See
ein Stück Wiese, das abwärts in den See verlief. Rechts davon stand eine hohe Weide. Wie groß sie geworden war! Und in diesem Winkel, vor der Weide, zwischen der Landzunge und dem Ufer weiter drüben, blühten die Seerosen. Ein ganzes Beet von Seerosen, weiß und rosa und grünlich getönt, große, geheimnisvolle Blüten, stumm und leuchtend auf dem hier dunklen Wasser.
»Das ist schön«, sagte René nach einem kleinen Schweigen. »Und du hast gewußt, daß die hier blühen?«
»Sie haben früher hier auch geblüht. Und ich habe gehofft, daß sie noch da sind.«
Ich konnte den Stuhl nicht bis zum Ufer schieben, der Boden war zu weich. Aber man sah es auch von hier aus gut.
»Wirklich entzückend«, hauchte das blondlockige Schwesterchen. »So richtig romantisch.«
Ich warf ihr von oben einen Blick zu. War sie eigentlich so blöd, oder tat sie nur so? Sie bemerkte, daß ich sie ansah, und schenkte mir wieder einmal ihr kokettes Lächeln. Sie war recht hübsch. Bemerkenswert hübsch für diesen Job. Mädchen dieser Art suchten sich meist einen anderen Beruf. Eine Weile blickten wir uns an. Zu ihren hellblonden Löckchen, die freigebig unter dem Häubchen hervorquollen, hatte sie erstaunlich dunkle, fast schwarze Augen. »Wie heißen Sie eigentlich?« fragte ich.
»Ich? Oh …«, sie kicherte albern. »Was meinst du, René? Wollen wir es dem Onkel sagen?«
»Mir egal«, knurrte René. »Wenn er's wissen will.«
»Du bist nicht sehr liebenswürdig«, sagte sie. »Er ist doch nett, der Herr Ried, nicht? Dir die schönen Blumen zu zeigen.«
»Sie heißt Dorette«, klärte mich René auf.
Das paßte zu ihr. »Also, Dorette«, sagte ich, »dann werde ich euch jetzt wieder ein Stück zurückbegleiten. Damit Sie nicht so weit schieben müssen. Und dann warne ich Sie, allein hierherzugehen. Sie sehen, das Ufer ist sumpfig. Man kann hier leicht den Boden verlieren.«
»Das wäre unangenehm.« Sie lächelte mich an. »Den Boden unter den Füßen zu verlieren, meine ich.«
»Eben.«
Ich wollte den Stuhl wenden, aber René sagte: »Warte noch. Laß erst ein bißchen Amigo zu mir.«
Ich wandte mich um. Amigo hockte am Fuße der Weide und beobachtete uns.
»Gut«, sagte ich. »Wir werden uns etwas zurückziehen. Dorette und ich rauchen eine Zigarette, und du unterhältst dich ein bißchen mit Amigo. Recht so?«
Er nickte. Und wirklich, Amigo trabte zum Rollstuhl, sobald wir beiden Erwachsenen uns ein Stück am Ufer entfernt hatten.
»Huch«, quietschte Dorette, als sie etwas zu nah zum weichen Boden kam und Wasser in ihren Schuh drang.
»Kommen Sie hier herüber«, sagte ich. »Hier ist der Boden fest.«
Sie kam. Sehr nahe neben mich. »Aber Mücken gibt es hier«, beklagte sie sich.
»Darum dachte ich daran, eine Zigarette zu rauchen. Oder sind Sie Nichtraucherin?«
»Aber nein. Ich nehme gern eine.«
Wir rauchten. Ich sagte nichts mehr. Dorette auch nicht. Ein Stück von uns entfernt saß der Junge in seinem Rollstuhl. Amigo stand bei ihm, den Kopf auf seinen Schoß gelegt. Das Bild hatte etwas Herzbewegendes. Und irgendwie machte es mich auch zornig.
»Wenn das mein Junge wäre«, sagte ich, »könnte er diesen Hund bei sich haben, wo und wie lange er will.«
»Aber das geht doch nicht. Er ist so schmutzig.«
»Herrgott, das höre ich jetzt mindestens zum zwanzigstenmal. Na schön, er ist schmutzig. Schmutz ist nicht angeboren. Jedenfalls äußerlich nicht.«
»Man kann es den Gästen im Hotel nicht zumuten.«
»Dann eben nicht im Hotel. Sollen sie nach Hause fahren mit dem Kind und den Hund mitnehmen.«
Sie blickte erschreckt zu mir auf. »Na, Sie sind aber rigoros.«
»Wieso denn? Was hat der arme Kerl denn von seinem Leben? So lange krank. Und wie nervös er ist, sehen Sie ja daran, daß so ein bißchen Schokolade ihm den Magen verdirbt. Ich bin kein Arzt, aber ich kann mir vorstellen, daß man den Jungen vor allem von der Seele her kurieren muß. Man darf ein Kind nicht unglücklich sein lassen. Dann kann es nicht gesund werden. Sie müßten das doch eigentlich verstehen als Krankenschwester.«
»Na ja, natürlich. Das stimmt schon. Aber daß es gerade so ein Köter sein muß …«
»Ist doch egal, was es ist. Er liebt den Hund eben. Das genügt doch, sollte ich meinen.«
Ich nahm mir vor, ein ernstes Wort mit Renate zu sprechen, falls ich sie wiedersah. Und mit dem Ruedi auch, schließlich war er jetzt der behandelnde Arzt des Jungen.
Ich schob den Rollstuhl zurück bis zum Schloßpark.
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