Der Mond im See
wieder nach Norden. Marnbach erschien mir verhältnismäßig wenig verändert, ein Schweizer Provinzstädtchen, nett und ruhig und ein wenig altmodisch.
Ich verließ den See und erreichte nach etwa zehn Kilometern die große Chaussee. Ohne genau zu überlegen, was ich eigentlich tat, bog ich in sie ein und fand mich eine halbe Stunde später in A. der Kantonshauptstadt, wieder.
Ich parkte meinen Wagen auf dem Platz hinter der Post und machte mich dann auf einen Rundgang durch die nette kleine Stadt. Auf den Straßen war allerhand Betrieb, so viele Autos hatte es früher in A. nicht gegeben. Die Geschäfte waren voller Kunden, das stellte ich staunend fest. Anscheinend gaben jetzt auch die Schweizer das Geld leichthändiger aus als früher. Und noch etwas fiel mir auf: wie schwül es war. Der Himmel war nicht mehr strahlend blau wie in den vergangenen Tagen, er hatte sich weißlich umzogen, und die Hitze drückte auf die Straßen nieder.
Ich beschloß, da ich nun schon einmal hier war, etwas einzukaufen: zwei leichte Sommerhemden, eine neue Badehose, und zum Schluß erstand ich noch einen sehr schicken hellen Strohhut. Hochbefriedigt verließ ich das Kaufhaus von Herrn Nägerlin. Jetzt wäre ein kühler Trank recht.
Soweit mir erinnerlich, bekam man im Hotel Storchen sowohl einen guten Wein wie auch ein hervorragendes Essen. Dorthin lenkte ich meine Schritte.
Die Gaststube vom Storchen war unverändert, die gleichen altmodischen Stühle, gelegentlich ein rotes Samtsofa in einer Nische, die runden Lampen über den Tischen – aber alles war so anheimelnd, die Tische weiß und sorgfältig gedeckt. Mit einem erleichternden Seufzer schob ich mich in eine Ecke, die gerade noch frei war. Die Saaltochter kam, begrüßte mich freundlich und fragte nach meinen Wünschen. Ich bestellte drei Dezi Twanner und ließ mir die Speisekarte geben.
Der Wein kam augenblicklich, er war herrlich kühl, herb und erfrischend. Ich trank das erste Glas in einem Zug leer. Und das war der Moment, in dem ich bei mir dachte: Wieder nach Indien? Kommt nicht in Frage. Was für ein Narr muß man sein, dieses Europa zu verlassen. Alle Schätze der Welt konnten einen nicht dafür bezahlen, was man entbehren mußte. Eine kleine Stadt wie diese, eine Gaststube wie die, in der ich jetzt saß, ein Wein wie dieser und ein Essen wie jenes, das man mir später servieren würde und von dem ich jetzt schon mit Sicherheit wußte, daß es mir schmecken würde – nein, bei Gott, keine Fremde, keine Ferne, mochte sie so bunt und interessant und exotisch sein wie auch immer, nichts konnte angenehmer, wohltuender sein, als in einem Land wie diesem zu leben.
Wohltuend! Das war das richtige Wort. Möglicherweise wußten die Schweizer es gar nicht, welch eine Seelenmassage es bedeuten konnte, in ihrer Mitte zu weilen. Sicher, das Leben war auch hier lauter, hastiger, lärmender geworden. Und dennoch war der beständige Grundakkord einer durch nichts zu erschütternden Ruhe geblieben. Wie ein See, dessen Oberfläche bewegt wird und dessen Tiefe von keinem Sturm, keinem Unwetter angerührt werden kann. Lag es an den Menschen, an der Landschaft, ich wußte es nicht. Sicher trug das grüne saftige Land, das immer wieder durch Hügel und Berge unterteilt wurde, seinen Teil dazu bei.
Aber hauptsächlich waren es wohl die Menschen, denen die schweren Erschütterungen, die in diesem Jahrhundert in anderen Ländern das Oberste zuunterst gekehrt hatten, erspart geblieben waren.
Die feste Sicherheit, die gemächliche Geruhsamkeit des Schweizer Lebens, mochte man auch anderwärts darüber spotten, waren letzten Endes, und ganz besonders in unserer ruhelosen Zeit, ein kostbares Gut.
Komisch, daß ich so etwas dachte. Ich war schließlich noch jung und hatte mir einmal nichts so sehr gewünscht, als fremde Länder und Erdteile kennenzulernen. Aber drei Jahre Indien hatten genügt, um meine Begierde nach Fremde zu stillen. Und den Reiz dieser friedvollen Welt zu erkennen.
»Ist es erlaubt?« fragte eine Stimme.
Ich blickte auf. An meinem Tisch stand Kommissär Tschudi, den ich vor zwei Tagen im Gutzwiller-Haus kennengelernt hatte.
»Bitte!« sagte ich. Und als er saß: »Wollen Sie mich verhaften oder verhören, oder sind Sie zufällig hier?«
Er lachte. Mit seinem runden, gutmütigen Gesicht paßte er großartig zu den Gedanken, denen ich eben nachgegangen war. Er sah aus wie ein behäbiger mittelalterlicher Bürger, der am Abend gern seinen Schoppen trank und seine
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