Der Mond ist nicht allein (H´Veredy Chroniken) (German Edition)
stattfindet, entgeht ihnen das nicht“, hatte der betreffende Waldläufer erklärt.
Wie es eben im Dschungel gelegentlich geschah, brach wieder einmal lautes Vogelgeschrei um sie herum aus. Da eine Unterhaltung dadurch zeitweilig unmöglich wurde, musste sich Lena mit ihren eigenen Gedanken begnügen: Ich glaube, ich verstehe ganz gut, warum es früher zu Kampfhandlungen zwischen Eingeborenen und Stadtleuten gekommen ist. Die Leute von V´Llionias und aus den Dörfern beanspruchen immer nur den Nahbereich um ihre Siedlung für sich. Der ganze übrige Dschungel gehört nach ihrem Verständnis jedem, der darin herumlaufen möchte. Dadurch, dass der Balazuma-Stamm ein großes Gebiet ganz besitzen will, macht er sich die Zivilisation zum Feind. Alfred hat schon recht: Das ist irgendwie das Gegenteil von dem, was wir auf der Erde gewohnt sind. Da waren es, wenn überhaupt, immer die Indianer, die meinten, dass man Land nicht wirklich besitzen kann, und die ´Zivilisierten´ glaubten, dass Landbesitz der Normalzustand der Welt sei.
Später hatte Lena andere Sorgen. Sie waren wieder einmal nicht umhingekommen, sich gegen eine Menge großer Spinnen zu verteidigen, und hatten ein gutes Dutzend davon getötet. Normalerweise hätten sie diese Delikatesse sofort verspeist, doch hier konnte ihnen das als Wilderei ausgelegt werden. Lena wollte die Tiere liegenlassen, doch damit brachte sie sowohl die Waldläufer als auch Velinas ernsthaft gegen sich auf: „Lena, es ist schlimm genug, dass wir hier in einem so übertrieben großen Gebiet nicht jagen oder sammeln dürfen. Aber eine Beute nicht zu Essen, die man töten musste, das ist widernatürlich!“, brachte Velinas diese Position auf den Punkt.
„Das ist mir schnurz! Hier sterben täglich hunderte Tiere, und wenn wir die Spinnen einfach dalassen, sind sie in kürzester Zeit von Ameisen vertilgt. Der Natur kann es egal sein, dass wir sie nicht gegessen haben. Wir wollen hier nichts essen, was wir nicht mitgebracht haben oder von den Einheimischen geschenkt bekommen. Ich will um keinen Preis eines dieser ´Missverständnisse´, die dazu führen, dass nach einem Gefecht ein paar Balazuma, ein paar dumme Städter und dazu noch drei Catjary tot im Wald liegenbleiben!“
„Wir lassen diese Spinnen nicht unnötig verderben! So etwas tut ein Waldläufer nicht!“, schaltete einer ihrer Führer auf Stur.
Lena kannte die Einstellung der Waldläufer mittlerweile ganz gut. Sie mochten für diese Expedition angeworben sein, doch im Herzen gingen sie dennoch davon aus, dass sie es seien, die den Dschungel kannten und daher dort auch die Regeln machten. Lena wusste nicht, was sie tun sollte. Sie könnte zwar sicher ihre Anweisungen durchsetzen, doch die Waldläufer und ihre Gilde gegen sich aufzubringen, wäre mittelfristig fatal für die Handelsgesellschaft. Bisher war es ihr wegen der Bodenständigkeit dieser Menschen leicht gefallen, in allem zu einer Verständigung zu gelangen.
Alf war mit einem Kompromissvorschlag zur Hand: „Wir haben doch etwa zwei Kilo Salz als Geschenk für die Eingeborenen dabei. Wir könnten die Spinnen in den Salzbeutel stecken, damit sie nicht verderben und sie den Balazuma mitbringen. Dann würde niemand bestohlen und es würde kein Waldläuferstolz verletzt!“
„Ihr macht mich alle fertig“, seufzte Lena resigniert. „Ihr wisst schon, dass das Salz das wir damit verbrauchen, für die Leute hier viel wertvoller wäre, als ein paar Spinnen, die dadurch noch dazu ihren Geschmack verlieren? Verflucht noch eins, wenn wir nur so den lieben Frieden aufrechterhalten können, dann machen wir es so. Denkt alle daran: Wenn wir irgendwelchen Balazuma begegnen, zieht niemand eine Waffe, es sei denn, ich befehle es ausdrücklich. Ich bin bereit, einen hohen Preis dafür zu bezahlen, dass der bestmögliche Start für neue Beziehungen gemacht werden kann.“
„Freude, ist es mir, das zu hören!“, ertönte eine Stimme aus dem Astwerk über ihnen. Dann raschelte es im Gebüsch, ein Seil wurde herabgelassen und ein Mann rutschte daran hinab. Es konnte überhaupt kein Zweifel bestehen, dass es sich um einen Balazuma handelte. Der Mann sah in Lenas Augen selbst nach den Maßstäben H´Veredys ungewöhnlich aus. Am augenfälligsten fand sie seine silbergraue Hautfarbe, doch auch das große runde Mondgesicht war alles andere als das, was Lena aus V´Llionias kannte. Er hatte ein vom hohen Alter gezeichnetes Gesicht. Ungeachtet der flüssigen Bewegungen,
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