Der Mond ist nicht allein (H´Veredy Chroniken) (German Edition)
sich aber.
Tatsächlich war Lena zunächst überrascht, wie leicht ihr der Weg zum Abgrund fiel. Die Umgebung hatte sie erfolgreich ausgeblendet und eigentlich fühlte sie überhaupt nichts, selbst als sie sich senkrecht nach vorne überkippen ließ. Ich bin wie ein Roboter , dachte sie als sie den Feldstecher, der sicher an ihrem Handgelenk festgebunden war, an die Augen führte und die Wellen des Sees, die damit so viel näher wirkten, absuchte. Da! Das Paket! Es geht gerade erst unter und … JA! Der Kanister hängt noch daran und wird nicht mit runtergezogen. Es hat funktioniert!
„Es hat geklappt!“, rief sie aufgeregt und ließ den Feldstecher sinken. Damit begann der Horror für sie. Bis gerade war sie noch auf ihre Aufgabe fixiert. Doch jetzt war unvermittelt der Abgrund wieder da. Sie wollte ´hochziehen´ rufen doch das kam nicht infrage. Die Stimme versagte ihr und etwas schien ihr die Luft abzuschnüren. Sie musste sich einfach sofort an irgendetwas festhalten! Dafür kamen nur die blanke Felswand zu ihren Füßen und das Seil infrage, das zwischen ihren Schulterblättern auf dem Rücken ansetzte und das sie vor einem Sturz in die Tiefe bewahrte. Panisch versuchte sie, beides zugleich zu erreichen. Ihre heftigen, fahrigen Windungen zerrten gewaltig an ihrem dicken Halteseil. Rolf und Alfred mussten einen Schritt vorwärts machen, um sich zu fangen, und Lena sackte ein Stückchen weiter ab.
Objektiv gesehen war das nicht weiter schlimm. Natürlich war das Seil weiter hinten zur Sicherheit noch gründlich festgebunden worden und seine Tragkraft hätte annähernd für einen Kleinwagen ausgereicht. Auch wenn die kräftigen jungen Männer losgelassen hätten, wovon sie weit entfernt waren, wäre Lena nichts geschehen.
Für Lena spielten Vernunftgründe aber keine Rolle mehr. Panisch krallte sie sich in den Fels, konnte sich dort aber nicht halten und baumelte hilflos zappelnd über dem Abgrund. Alfred und Rolf reagierten sofort und begannen sie mit aller Kraft hinauf zu zerren. Vielleicht hätte Lena sich in diesem Moment unter dem Einfluss von Alfs beruhigenden Worten wieder fassen können. Doch jetzt drängte sich das Geräusch in den Vordergrund, das das Seil verursachte, als es über die Felskante schrammte. Damit endete für sie das letzte Bisschen Vernunft. Sie hatte sofort das Bild eines sich durchscheuernden Halteseils im Kopf und begann hysterisch zu schreien. Sobald die Schräge wieder unter ihr lag, klammerte sie sich verkrampft mit Händen und Füßen an jeder sich anbietenden Felsspalte fest. Fortan rührte sie sich keinem Millimeter mehr von der Stelle.
Da alles Zureden nichts half, waren ihre beiden Helfer gezwungen, sie mit einem Ruck loszureißen und rasch über den Fels zu zerren. So blieb ihr keine Gelegenheit, ihre jetzt blutenden Finger noch einmal in eine Lücke zu zwängen. Doch für Lena bedeutete das in dem Moment nur, gewaltsam das letzte Quäntchen Halt entrissen zu bekommen. Sie kreischte und brüllte in Todesangst.
Endlich erreichte Lena wieder sicheren Untergrund. Sie wand sich in kürzester Zeit aus den Halteschlingen heraus und rannte von dem Abgrund und von ihren Helfern fort in den Schnee zwischen den nächsten Felsen. Bald darauf kauerte sie Schutz suchend versteckt in einer Felsspalte.
Rolf und Alf waren gar nicht so rasch in der Lage gewesen, ihr zu folgen. Bald drangen ihre Rufe zu Lena durch. Insbesondere die Sorge in Alfs Stimme ließ sie erstaunlich schnell wieder zu sich kommen.
Sie zitterte am ganzen Körper so stark, dass sie nur mit Mühe aufrecht stehen konnte. Alf wollte sie in die Arme nehmen, doch sie war noch nicht in der Lage, den damit verbundenen Kontrollverlust hinzunehmen. Sie wehrte ihn mit unmissverständlicher Geste ab. Immerhin war sie aus eigenem Antrieb wieder aus ihrem Versteck hervorgekommen, sagte sie sich. „Ihr habt mich gehört! Das Paket ist gut angekommen! Packt die anderen Sachen ein und schickt sie sofort hinterher! Bis dahin lasst mich in Ruhe!“, blaffte sie die verblüfften jungen Männer an und ging einige Schritte fort, um sich erneut hinter einem Felsvorsprung zu verbergen.
Als Alf, nachdem die Arbeit erledigt war, zu ihr kam, sie über die Haare streichelte, sie „meine tapfere, wagemutige Liebste“, nannte und ihr erklärte, wie stolz er auf sie sei, statt ihre Panikattacke zu kommentieren, war sie wieder bereit, sich darauf einzulassen. Sie war ihm unendlich dankbar für seinen Beistand.
Die restlichen
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