Der Mondmann
schimmerte wie mit Öl beträufelt. Seine Hände lagen auf der Decke. Sie waren wie zum Gebet gefaltet.
Max deutete auf eine Wasserflasche. »Möchtest du auch einen Schluck?«
»Das wäre nicht schlecht.«
Marwood richtete seinen Blick auf mich. »Es ist vorbei, nicht wahr? Sie haben auch nichts gesehen.«
»Das nicht«, gab ich zu, »aber ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben.«
»Wer soll Melody denn noch retten?«
»Ob Sie es glauben oder nicht, aber wir haben noch einen Trumpf im Spiel.«
»Sagen Sie nicht so etwas.«
Es war ganz natürlich, dass er mir nicht glaubte. Ich wollte auch nicht weiter auf ihn einreden und nahm dankend das Glas Wasser entgegen, das Maxine mir reichte. Auf dem Wasser schwamm eine halbe Zitronenscheibe.
Der kühle Trank tat mir gut. Prickelnd lief das Wasser durch meine Kehle in den Magen. Es gab nicht viel zu sagen, wir mussten warten, und ich hörte die Flüsterstimme des Verletzten, der immer nur von seiner Frau sprach.
Ich ging auf das große Fenster zu, um in den Garten zu schauen, der sich an die hintere Seite des Hauses anschloss. Er und der Garten vorn waren ungefähr gleich groß, nur war der hintere bewachsen. Es war Platz genug für eine Wiese, auf der eine Hand voll Obstbäume wuchsen.
Der Wind war mit seinen mächtigen Wellen durch das Geäst der Bäume gefahren und hatte die Blüten abgerissen. Sie lagen jetzt auf dem Rasen wie eine dünne weiße Decke.
Über die hüpfte plötzlich etwas Schwarzes.
Ein Vogel.
Aber einer mit mondgelben Augen!
Es ging um Sekundenbruchteile. Der Mondmann wollte die beiden nicht entkommen lassen. Aus seiner Ruhestellung hervor sprang er schreiend nach vorn, um sie letztendlich doch noch zu packen.
Der nächste Flügelschlag. Er trieb die beiden Körper in die Höhe, und der Mondmann schaffte es nicht mehr. Er sprang ins Leere.
Das alles erlebte Melody Marwood hautnah mit. Sie wollte nicht darüber nachdenken, alles, was mit ihrer nahen Vergangenheit zu tun hatte, interessierte sie nicht mehr. Wichtig war das Phänomen, das sie erlebte. Da war für sie tatsächlich ein Wunsch in Erfüllung gegangen, von dem viele Menschen nur träumen konnten, wobei er sich nie erfüllte. Höchstens in ihren Träumen.
Es musste raus. Sie konnte den Mund einfach nicht halten. »Wir fliegen!«, rief sie. »Wir fliegen tatsächlich! Ich... ich kann es kaum fassen!«
Auch Carlotta hörte die Kommentare. Sie freute sich darüber, dass Melody und sie es geschafft hatten, zumindest einen Teil der Flucht, denn dass der Mondmann aufgeben würde, konnte sie sich nicht vorstellen. So leicht ließ er seine Beute nicht aus den Klauen. Und sie dachte auch daran, dass er noch auf zahlreiche Helfer zurückgreifen konnte, und die Raben waren schnell.
Das Vogelmädchen drehte sich noch höher. Dabei vermied sie einen allzu steilen Flug, denn Carlotta wollte nicht, dass die Gerettete von ihrem Rücken abrutschte und auf den Boden schlug. Lieber drehte sie mehr Spiralen, als sie gemeinsam an Höhe gewannen und die Luft immer kälter wurde.
Melody konnte es noch immer nicht fassen. Sie hatte sich mit beiden Händen an den Schulterseiten festgeklammert und ihre Finger so tief wie möglich in das feste Fleisch gegraben. Jetzt war es nützlich, dass Carlotta sehr breite Schultern besaß.
»Ich kann es nicht fassen!«, rief Melody. »Wir fliegen wirklich. Und du... du hast Flügel.«
Carlotta hörte zwar die Kommentare, gab aber keine Antwort. Sie konnte nur hoffen, dass Melody nicht abrutschte, und wenn es ihr gelingen sollte, die Frau zu retten, musste sie vergessen, was sie erlebt hatte. Das Vogelmädchen offenbarte sich nicht gern, doch wenn es darum ging, ein Menschenleben zu retten, sahen die Dinge ganz anders aus. Da hatte es einfach nicht anders gekonnt, als auf diese Art und Weise zu handeln.
Nach drei weiteren Spiralen ging Carlotta davon aus, dass sie eine genügend große Höhe erreicht hatten. Sie hatte sich bisher nicht darum gekümmert, was unter ihr lag. Rein gefühlsmäßig ging sie davon aus, dass sie den obersten Rand des Turmes erreicht hatten, und hier wollte sie sich einen Überblick verschaffen.
Sie ging über in einen Gleitflug. In der Höhe blieben sie auf einer Ebene. Melody lag jetzt besser auf dem Rücken, weil der Körper unter ihr flacher geworden war.
Carlotta schaute in die Tiefe.
Der erste Eindruck war positiv. Sie sah unter sich nicht nur den dunklen Erdboden, sondern auch den Turm, dessen höchste Stelle sie bereits
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