Der Mondscheingarten
Freude, einer nie gekannten Angst. Noch nie war sie ohne Peter weiter als nach London geflogen. Vor ihrer Reise zu Ellen hatte sie Berlin kaum verlassen. Und nun sollte sie ans andere Ende der Welt? Dieser Gedanke ließ ihre Magengrube flattern und ihre Hände kalt werden.
Dennoch rief sie das Reisebüro an, dessen Nummer Ellen ihr aufgeschrieben hatte, und buchte die Flüge, die sie bereits in zwei Tagen nach Padang bringen würden.
Am Nachmittag dann hatte sie sich an den Gedanken gewöhnt, dass sie diese Reise wirklich antreten würde. Es war ihr zwar noch immer ein wenig peinlich, so ein großzügiges Geschenk von Ellen anzunehmen, aber sie wusste auch, dass es ihr guttun würde.
Und – sie wollte nach Indonesien! Sie wollte herausfinden, was mit Rose passiert war, und sie wollte auch etwas über das Leben der offenbar so behüteten Helen Carter erfahren.
Dabei schoss ihr plötzlich Gabriel in den Sinn, und sie ertappte sich dabei, dass sie ihn anrufen wollte, um ihm von ihrer unverhofften Reise zu erzählen.
Doch konnte sie das tun? Seit dem Vortag war er bei Diana. Und eigentlich war die Tatsache, dass sie verreisen würde, nichts Weltbewegendes. Dennoch war es ihr wichtig, und sie hatte das dringende Bedürfnis, es ihm zu erzählen.
Sie kramte also seine Handynummer hervor und wählte.
Tatsächlich meldete sich Gabriel nach dem dritten Klingeln.
»Lilly, was für eine Überraschung! Haben Sie bereits jetzt so starke Sehnsucht nach mir?«
Der scherzhafte Tonfall in seiner Stimme zerstreute ihre kurz aufkeimenden Zweifel, dass sie ungelegen anrief.
»Ich wollte Ihnen etwas erzählen. Es … es hat sich … etwas ergeben.«
»Ich hoffe, nichts Unangenehmes. Alles okay bei Ihnen? Hat sich der Freund Ihres Bekannten aus Rom gemeldet?«
»Nein, das nicht. Es ist etwas anderes …« Lilly atmete tief durch. Wenn sie es ihm jetzt sagte, gab es kein Zurück mehr. »Ich werde in zwei Tagen nach Sumatra fliegen.«
Wie unwirklich diese Worte aus ihrem Mund klangen. Gabriel schien das auch zu überraschen, denn er sagte für einige Augenblicke nichts.
»Meinen Glückwunsch!«, entgegnete er, und Lilly war sicher, dass er gerade wieder dieses unverschämt breite Lächeln auf seinem Gesicht hatte. »Also werden wir unser Abendessen noch ein Stück weiter verschieben müssen.«
»Ich fürchte schon«, entgegnete Lilly und fühlte tiefes Bedauern darüber. »Aber Sie haben sicher ohnehin noch zu tun wegen Ihrer … Familiensache …«
»Ein bisschen, aber es ist weniger schlimm, als ich dachte. Wie kommt es denn, dass Sie so bald loswollen?«
»Meine Freundin meinte, dass ich losreisen soll, solange die Spur frisch ist. Alte Jägerweisheit.«
»Haben Sie denn irgendwelche Jäger in der Familie, die das bestätigen?«
Lilly kicherte in sich hinein. »Nein, natürlich nicht. Aber es ist eine ungeheure Chance, und ich glaube, sie hat recht, wenn sie meint, dass ich endlich den Bann loswerden muss.«
»Welchen Bann denn?«
Hatte sie zu viel erzählt? Für einen Moment zögerte sie, beschloss dann aber, dass Gabriel es ruhig wissen konnte.
»Nach dem Tod meines Mannes habe ich mich kaum irgendwo hingewagt. Ich habe mich eingeigelt, mich auf meine eigene Welt beschränkt. An dem Tag, als ich die Geige geschenkt bekam … Irgendwas ist da aus den Fugen geraten. Hat meine Weltsicht verschoben.« Sie machte eine kleine Pause, lauschte nach irgendeiner Reaktion im Äther, doch am anderen Ende vernahm sie nur Gabriels gleichmäßige Atemzüge.
»Auf jeden Fall geht mein Flug in zwei Tagen, morgens um zehn. Laut Flugplan werde ich dann am darauffolgenden Vormittag in Padang sein.«
»Das ist gut. Ich meine, dass Sie fliegen. Nicht nur wegen Rose und Helen, auch für Sie.«
Klang er ein wenig enttäuscht? Am liebsten hätte sie gefragt, ob er nicht mitreisen wollte – als Chef der Music School hatte er sicher die nötigen Mittel. Aber das ging nicht.
»Wenn Sie es schaffen, auch nur ein paar Teile des Puzzles zu finden, werden Sie diesen Bann loswerden. Dann werden Sie frei sein und sich neu orientieren können. Und außerdem haben Sie mir dann eine Menge zu erzählen. Vorausgesetzt, Sie vergessen mich nicht ganz.«
»Wie könnte ich!«, entgegnete Lilly lächelnd.
»In Indonesien gibt es sicher einen Haufen gutaussehender Männer, die Ihnen gern den Kopf verdrehen würden.«
»Das mag sein, aber ich glaube …« Beinahe hätte sie ihm gestanden, dass er ihr den Kopf bereits kräftig verdreht hatte, doch
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