Der Mondscheingarten
muss. Außerdem habe ich etwas für Sie. Zwar könnte ich mir denken, dass dies ein gutes Lockmittel wäre, damit Sie zu mir zurückkommen, aber ich finde, dass Sie das hier kennen sollten. Es könnte ein völlig neues Licht auf Ihre Suche werfen.«
Gabriel lächelte Lilly erwartungsvoll an, dann reichte er ihr einen Brief. Er war sehr abgegriffen, als hätte Rose ihn jahrelang unter ihrem Kleid getragen. Adressiert war er an einen Lord Paul Havenden auf einem Landgut nahe London.
»Wo haben Sie den denn gefunden?«, fragte Lilly verwundert und musste sich bezähmen, den Umschlag nicht gleich zu öffnen.
»In den Unterlagen von Mr Carmichael, dem Agenten unserer lieben Rose. Ich habe ein bisschen herumgestöbert und bin auf eine seiner Nachfahrinnen gestoßen. Diese bewahrte eine alte Mappe mit Briefen ihres Großvaters auf. Als klar war, dass Jolene durchkommen würde, habe ich einen Abstecher zu der alten Dame gemacht. Das Verlangen, tiefer in seine Vergangenheit vorzudringen, hatte sie wohl nicht gehabt, aber sie hat es auch nicht übers Herz gebracht, die Mappe wegzuwerfen. Als ich bei ihr vorsprach, übergab sie mir die Unterlagen, ohne mit der Wimper zu zucken. Ja, sie wirkte geradezu erleichtert, dass ich ihr den alten Staubfänger abnehme.«
»Vielleicht wusste sie ja doch, was die Mappe enthielt.«
»Oh, ich bin mir sicher, dass sie das wusste! Aber wie gesagt, wahrscheinlich waren ihr diese Briefe wertlos vorgekommen. Soweit ich weiß, gibt es die Familie Havenden so nicht mehr, und also gibt es auch keinen Skandal auszulösen.«
»Skandal?« Das Papier in Lillys Hand erschien ihr plötzlich wärmer, was aber nur daran liegen mochte, dass sämtliche Wärme aus ihren Fingern wich.
Jakarta, den 16. Dezember 1909
Mein lieber Paul,
wahrscheinlich hast Du mich schon längst vergessen, jedenfalls erscheinen mir der Nachmittag auf der Plantage und Dein Versprechen so fern, als läge ein Menschenleben dazwischen.
Gewiss bist Du jetzt verheiratet, Deine Plantage läuft prächtig, und Du kannst auf eine reiche Kinderschar blicken. Gewiss denkst Du nicht mehr an unsere Küsse und leidenschaftlichen Umarmungen. Doch ich kann Dich nicht vergessen. Nicht, weil ich Dich noch immer liebe, nein, derlei Gefühle sind mir mittlerweile fremd geworden. Das Zusammentreffen mit Dir hat mein Leben vollkommen aus der Bahn geworfen, so dass ich mir manchmal wünschte, ich hätte die Einladung des Gouverneurs, die mich nach Wellkom brachte, einfach zerrissen.
Der Grund, weshalb ich Dir schreibe, ist, dass aus der damaligen Nacht eine Frucht entsprungen ist, ein kleines Mädchen. Mit dieser Schuld hätte ich leben können, und es ist mir auch erfolgreich gelungen, Dich aus meinem Herzen zu verbannen.
Doch nun wurde mir eine verhängnisvolle Diagnose gestellt, Dr. Bruns meint, mir blieben nur noch ein paar Monate, bestenfalls ein Jahr. Also bitte ich Dich heute erneut, Dich um Deine Tochter zu kümmern, weil ich es nicht tun kann. Wenn Du dem Überbringer dieses Briefes Dein Einverständnis gibst, wird er Dir sagen, wo Du sie finden kannst. Solltest Du das nicht wollen, wirst Du auch nie ihren Namen erfahren.
Rose
Lilly, die die Worte halblaut vorgelesen hatte, verstummte. Sie brauchte eine Weile, um zu verdauen, was sie da gelesen hatte. Eine Gänsehaut überlief ihren Rücken. »Rose hatte ein Kind?«
»Eine Tochter, wie es aussieht, ja.«
»Und warum hat niemand etwas davon gewusst?« Fassungslos betrachtete Lilly die geschriebenen Zeilen, die sowohl Enttäuschung als auch Verzweiflung beinhalteten.
»Weil unser guter Mr Carmichael offenbar ein Geheimnis bewahren konnte. Und weil er sich gewiss des Skandals bewusst war, den dieses Schreiben verursacht hätte, wäre es an die Öffentlichkeit gelangt. Ich habe einen meiner Leute aus der Music School losgeschickt, um etwas über die Havendens herauszufinden, und was der zutage gefördert hat, ist wirklich interessant. Demnach war Lord Havenden mit seiner Ehefrau Maggie nach Sumatra gereist, um eine Plantage zu erwerben. Irgendwann muss er Rose dort getroffen und sie geschwängert haben.«
Lilly schüttelte fassungslos den Kopf. »Dieser Brief ist eine Sensation!«
»Und ob er das ist! Rose bat um Hilfe für ihr Kind mit Havenden, weil sie schwer krank war! Auch ein Umstand, von dem wir nichts wussten, der aber ein wenig Klarheit in der Frage bringen kann, warum sie so plötzlich verschwand. Sie wird an der Krankheit, die sie hier nicht näher beschrieben
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