Der Mondscheingarten
anderes – die Frau sah dazu viel zu ordentlich aus –, dennoch konnte man nie wissen, was in einem Menschen steckte.
»Acht Jahre. Das ist genau das richtige Alter. Wenn sie zu alt sind, sind ihre Finger bereits zu steif, um die Griffe richtig zu erlernen.«
Obwohl sie von den Fingern sprach, betrachtete die Frau prüfend Helens Gesicht, was diese sehr merkwürdig fand. Dann sagte die Alte: »Spiel uns was vor. Das schwierigste Stück, das du schon beherrschst.«
Da brauchte Helen nicht lange zu überlegen. Bedächtig nahm sie ihre Geige vom Ständer und legte sie an. Dabei bemerkte sie, dass der Blick der alten Frau auf die Geige fiel. Was in ihren Augen aufflammte, konnte sie nicht bestimmen, auch konzentrierte sie sich jetzt lieber auf das Stück.
Nach einer Weile hob Mrs Faraday die Hand und riss Helen damit aus ihrem Spiel.
»Du spielst recht ordentlich, Mädchen. Und der Klang deiner Geige ist wirklich wunderbar. Woher hast du sie?«
»Es ist ein Geschenk einer Bekannten«, antwortete ihre Mutter rasch für Helen.
Die Alte reagierte darauf nicht.
»Du erinnerst mich sehr an ein Mädchen, das einst bei mir unterrichtet wurde. Auch sie war sehr begabt, auch sie hatte diese Art zu spielen. Jemand hat ganz offensichtlich versucht, dir das natürliche Spiel auszutreiben …« Dabei fiel ihr Blick beinahe schon zornig auf Miss Hadeland, doch dann richteten sich ihre Augen wieder auf Helen. Nicht gerade freundlicher, aber immerhin ohne einen Vorwurf. »Ja, dieses Mädchen war eine meiner besten Schülerinnen. Nicht immer gehorsam, aber es hätte Großes aus ihr werden können. Leider hat sie ihre Karriere weggeworfen und alles vergessen, was ich ihr je beigebracht habe.« Sie pausierte kurz, griff dann wieder nach ihrem Gesicht. »Ja, du hast sehr viel von ihr. Wahrscheinlich bist du wie sie. Aber diesmal werde ich es nicht zulassen, dass ein großes Talent verschwendet wird …«
Helen wusste nicht, wieso, aber bei diesen Worten begann ihr Herz ganz wild zu pochen. Was meinte sie damit?
»Was hältst du davon, nach England zu gehen und dort das Geigenspiel richtig zu lernen? Ich führe in London eine Musikschule, an der ich dich aufnehmen würde. Du kannst einiges, aber ich bin sicher, dass noch mehr in dir steckt. Ich weiß nicht, wie lange ich noch auf der Welt sein werde, wahrscheinlich ist diese Reise hier meine letzte. Was danach kommt, kann ich nicht sagen, es steht allerdings fest, dass du so eine Chance wie diese hier nicht noch einmal bekommen wirst. Also?«
Helen wusste nicht, was sie sagen sollte. Nachdem sie unschlüssig ihre Hände gerieben hatte, schaltete sich ihre Mutter ein.
»Nun, ich glaube kaum, dass Helen bereits erfassen kann, welch große Ehre es ist …«
»Reden Sie mit Ihrer Tochter«, sagte Mrs Faraday. »Und wenn es sein muss, entscheiden Sie für sie. Sie sollten immer im Hinterkopf haben, dass dieses Mädchen es vielleicht zu einiger Größe in der Welt bringen könnte – vorausgesetzt, es erhält die richtige Anleitung.«
»Ich werde mit ihr sprechen«, entgegnete Ivy Carter, während Helen zu Miss Hadeland blickte. Diese wirkte ein wenig verwirrt und starrte die ganze Zeit über den Ständer mit der Geige an. Erst als sich Mrs Faraday verabschiedete, kam wieder Leben in sie. Sie begleitete die alte Dame zusammen mit Ivy Carter zur Tür.
Helen blieb zurück, und während sie ihre Geige vorsichtig mit einem weichen Tuch abrieb und dann in den Koffer zurücklegte, fragte sie sich, was die alte Frau wohl gemeint hatte. Sie sollte in England das Geigenspiel erlernen? Spielte man in England etwa anders als hier?
Den ganzen restlichen Tag war Helen nicht mehr in der Lage, klar zu denken. Die Begegnung mit der alten Frau hatte sie fest im Griff, und so begann sie, rastlos durch den Garten zu wandern. Dabei hielt sie sich in der Nähe des Zauns und hoffte, dass vielleicht die fremde Frau erscheinen würde. Sie konnte ihr bestimmt sagen, was Mrs Faraday gemeint hatte!
Doch so sehr sie auch aufpasste, die Frauen, die am Garten ihres Elternhauses vorbeigingen, waren allesamt nicht so schön wie die Fremde, die ihr die Geige geschenkt hatte. Seufzend ließ sich Helen unter einem Baum nieder. Was sollte sie nun tun?
Sie blickte zum Haus, in dem ihre Mutter immer noch mit Miss Hadeland sprach. Wollte ihre Lehrerin vielleicht nicht, dass sie nach England ging? England, das klang so nach Ferne, aber irgendwie auch kalt. Sicher war es nicht so warm und sonnig wie hier, aber
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