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Der Mondscheingarten

Der Mondscheingarten

Titel: Der Mondscheingarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corina Bomann
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irgendwie hörte sich London auch nach Abenteuer an.
    Am Abend schließlich platzte sie beinahe vor Aufregung. Aus Angst, dass ihre Mutter eine Entscheidung getroffen haben könnte, die ihr nicht gefiel, bekam sie beim Abendessen keinen Bissen runter. Unruhig rutschte sie auf dem Stuhl her­um, während ihre Mutter mit ihrem Vater plauderte und anscheinend keine Notiz von ihr nahm. Der Besuch von Mrs Faraday kam schließlich auch zur Sprache, aber ihre Mutter lobte sie nur dafür, dass sie so schön gespielt hatte – und kündigte ihrem Mann an, dass sie später noch einmal mit ihm darüber sprechen wollte.
    Schließlich musste Helen auf ihr Zimmer, worüber sie sehr froh war. Vielleicht sollte sie es so machen, wie sie es immer tat, seit sie ihre Geige hatte – sich mit ihr besprechen. Im­merhin würde auch sie die Reise nach London antreten müssen.
    Sie zog den Koffer unter ihrem Bett hervor und klappte den Deckel auf.
    Im nächsten Augenblick schreckte sie zurück.
    Ihre Geige war verschwunden.
    Helen weinte mehrere Stunden ununterbrochen, während ihre Mutter verzweifelt versuchte, sie zu trösten. Mittlerweile waren Helens Lippen bläulich, und offenbar nahm sie nichts, was um sie herum vor sich ging, wahr. Sie trauerte wie um einen lebenden Menschen, und Ivy Carter hoffte nur, dass ihr Mann etwas finden würde. Irgendeine Spur. Nachdem das Fehlen der Geige bemerkt worden war, hatte er sich sofort auf den Weg zu Miss Hadelands Unterkunft gemacht.
    Innerlich wehrte sich Ivy Carter dagegen, dass die Musiklehrerin die Geige gestohlen haben könnte, aber wer sollte es sonst getan haben? Die alte Mrs Faraday? Nein, das war unmöglich, sie hatte sich wohl kaum ins Haus geschlichen.
    Schließlich versiegten Helens Tränen, nicht weil sie jetzt weniger traurig war, sondern weil ihre Augen, ihr gesamter Körper nicht mehr konnte. Sie verfiel in eine seltsame Starre, die ihre Mutter nicht einmal mit Scones und süßer Milch durchbrechen konnte. Mit zugeschwollenen leeren Augen starrte sie an die Zimmerdecke, so lange, bis die Lider zu schwer wurden und der Schlaf sie übermannte.
    Doch selbst da hatte Helen keine Ruhe. Furchtbare Träume suchten sie heim. Die fremde Frau erschien ihr, mit bleichem Gesicht und schwarzen Schatten unter den Augen, und warf ihr vor, nicht gut genug auf die Geige aufgepasst zu haben. Ständig wiederholte sie ihre Vorwürfe, und ihr Gesicht wurde immer furchterregender.
    Als Helen schreiend erwachte, sah sie, dass sie allein in ­ihrem Zimmer war. Die Tür war nur angelehnt, ein heller Lichtstrahl fiel in den Raum. Von unten drangen Stimmen herauf. Eine von ihnen gehörte ihrem Vater, der von der Suche zurückgekehrt sein musste.
    »Ich habe die ganze Stadt nach dieser Hadeland abgesucht – nichts«, sagte er zu Helens Mutter. »Sie hat ihr Zimmer heute Nachmittag aufgegeben und ist beinahe flucht­artig verschwunden. Ich habe mit ihrer Vermieterin ge­spro­chen, die sich aber auch keinen Reim auf ihr Verhalten machen konnte.«
    »Hast du ihr erzählt, dass sie die Geige unserer Tochter gestohlen hat?«
    »Ich habe zumindest diesen Verdacht geäußert. Die Vermieterin will mir Bescheid geben, wenn sie sie noch einmal sieht.«
    Ihre Musiklehrerin sollte sie bestohlen haben? Helen erinnerte sich wieder an die begehrlichen Blicke, und etwas in ihrer Brust krampfte sich zusammen. Miss Hadeland hatte sie manchmal ziemlich streng behandelt, aber dass sie ihr das Wertvollste, das sie besaß, stehlen würde, hätte sie nicht geglaubt.
    Niedergeschlagen schleppte sie sich zum Bett zurück. Dabei hatte sie das Gefühl, dass jetzt nicht nur ihre Augen brannten, sondern ihr gesamter Körper. Was, wenn sie die Geige nie wiederbekam? Wie sollte sie dann weiterspielen – und wer sollte sie unterrichten? Die alte Frau vielleicht mit den kalten Augen? Zitternd schlüpfte sie unter die Decke und dachte noch eine Weile über das, was geschehen war, nach. Ich habe keine Schuld, sagte sie sich. Ich habe doch nicht gesehen, wie sie an meinen Geigenkasten gegangen ist …
    Als Ivy Carter am nächsten Morgen das Zimmer ihrer Tochter betrat, fand sie das Mädchen fiebernd und beinahe bewusstlos vor. Erschrocken über ihren Zustand, rief sie nach ihrem Mann.
    »Das muss von dem vielen Weinen kommen, sie hat sich ja so furchtbar aufgeregt«, stellte er fest und lief los, um den Arzt zu holen.
    Diesem erzählten sie die gesamte Geschichte nicht, sie erwähnten lediglich, dass das Mädchen sehr geweint hätte, weil

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