Der Mondscheingarten
die Furcht, jemand könnte sie wegen des Diebstahls verfolgen, war größer gewesen als die Vernunft.
Das Motiv, da waren sich Helens Eltern sicher, war Gier gewesen, offenbar litt Imela Hadeland unter Geldnot, die sie mit dem Verkauf der Geige wohl lindern wollte. Und sie hatte ihre Tat geschickt geplant. Indem sie den Geigenkasten zurückließ, verschaffte sie sich einen kleinen Vorteil, denn das Fehlen des Kastens wäre eher aufgefallen als das Fehlen seines Inhalts.
Dass man ihre Musiklehrerin mit gebrochenem Genick gefunden hatte, erschreckte Helen sehr. Natürlich sagte man es ihr nicht offen, da wurde nur davon geredet, dass Miss Hadeland einen Unfall gehabt hätte, den sie nicht überlebte. Helen aber belauschte ihre Mutter und ihren Vater, als sie vor der Tür standen und sie schlafend wähnten.
Auch vom Diebstahl der Geige redete niemand. Man hatte das Instrument unbeschadet in der Nähe der Leiche gefunden, und da es noch immer niemanden gab, der Anspruch darauf erhoben hätte, brachte man sie Helen zurück. Wie von Zauberhand tauchte sie eines Morgens auf dem Stuhl neben dem Bett auf, und da wich auch die seltsame Krankheit von dem Mädchen. Das Fieber besserte sich schlagartig, binnen Stunden war Helen wieder so munter wie zuvor. Und sie spielte. So innig und lange, als wollte sie die versäumten Stunden an einem Tag nachholen. Sie hatte der fremden Frau ein Versprechen gegeben und wollte dieses auch einhalten.
Nur wenige Tage später holten ihre Eltern sie in den Salon und fragten sie, ob sie gern nach England in die Musikschule von Mrs Faraday gehen wollte. Helen war begeistert. Sie hatte mittlerweile einige Geschichten aus London, der Stadt, aus der ihre Urgroßeltern stammten, gehört und brannte jetzt doch darauf, diesen Ort einmal in Wirklichkeit zu sehen. Dass ihre Mutter mit ihr reisen würde, erleichterte ihr nur die Entscheidung. Ihren Vater lange nicht wiedersehen zu dürfen, bekümmerte sie dabei schon, aber sie dachte wieder an das, was die Frau gesagt hatte. Wenn sie ihr Versprechen nun hielt, wenn sie tat, was sie von ihr verlangt hatte, würde vielleicht alles gut werden und gut bleiben.
27
Padang 2011
Am Abend, im Hotelzimmer, während die Eindrücke des vergangenen Tages noch in ihr brannten, zog Lilly das schmale Tagebuch aus der Tasche, das sie bei ihrer Rückkehr dort fürs Erste verstaut hatte.
Nachdem sie das Haus des Gouverneurs wieder verlassen hatten, ohne weitere nennenswerte Funde zu machen, waren sie zurück nach Padang gefahren. Während der Fahrt versank Lilly in Gedanken. Sollte sie Ellen und Gabriel gleich heute schreiben? Oder besser mit der Neuigkeit warten, bis sie zurück war? Nach einigem Hin und Her entschied sie sich, die Bombe erst platzen zu lassen, wenn sie zurück in London war. Immerhin musste sie ihren Fund zunächst selbst einmal anschauen.
Verheugen hatte sich angeboten, das Album im Museum abzugeben und dafür zu sorgen, dass die Fotografien kopiert wurden. Lilly hatte sich bedankt und sich dann von ihm noch zum Hotel bringen lassen, wo sich Verheugen mit dem Hinweis verabschiedete, dass er heute Abend noch zum Flughafen müsse, um jemanden abzuholen.
Jetzt, nach einer erfrischenden Dusche und etwas Obst, das ihr ein freundliches Zimmermädchen gebracht hatte, fühlte sie sich in der Stimmung, sich dem Heftchen zu widmen. Vor ihrem Fenster breitete sich gerade ein grandioser Sonnenuntergang über Padang aus. Orange, Rot und Violett mischten sich zu einem atemberaubenden Schleier, während in den Gebäuden nach und nach Licht aufflammte und sich draußen die Geräusche veränderten. Zwar brodelte noch immer der Verkehr, den Klang der Hupen nahm Lilly schon gar nicht mehr gesondert wahr, doch hin und wieder drang ein Musikfetzen zu ihr herauf. Ob es jetzt irgendwo in der Stadt ein Schattenspiel gab? Oder ein Konzert?
Ellen hätte sicher darauf bestanden, sich das anzuschauen, aber dieser Abend sollte Rose Gallway gehören.
Ehrfürchtig fuhr Lilly mit dem Finger über den Deckel des Heftchens, dann begab sie sich auf ihr Bett, von dem aus sie einen tollen Blick auf den Himmel hatte.
»Na gut, Rose«, murmelte sie. »Dann erzähl mal …«
Aus den Aufzeichnungen von Rose Gallway
Vielleicht ist es zu spät, um mit einem Tagebuch zu beginnen, aber ich brauche es, um meine Gedanken zu ordnen.
Das Schreiben bereitet mir Mühe, doch ich möchte, dass etwas von mir bleibt. Etwas, das vielleicht die Zeit überdauert, etwas, das den
Weitere Kostenlose Bücher