Der Mondscheingarten
sind jedenfalls alles andere als groß.«
Zunächst fragte ich mich, was er damit meinte, doch dann ging mir ein Licht auf.
15. Februar 1910
Ich kann es kaum glauben! Das Mädchen, dieses kleine Mädchen mit den bernsteinfarbenen Augen! Der Detektiv hatte recht, sie war es wirklich. Und ich habe mit ihr gesprochen. Ich habe keine Ahnung, wie ich als Kind war, doch dieses Mädchen ist so offen, so mitfühlend … In all den Jahren habe ich mir vorgestellt, wie sie sein würde. Ich habe mich gefragt, wem von uns, ihrem Vater oder mir, sie ähnlich sein würde. Und jetzt habe ich sie gesehen.
Die Züge meiner Ahnen sind bei ihr kaum noch vorhanden, der Schnitt ihrer Augen ist wie der ihres Vaters, auch ihre Haut ist sehr weiß. Niemand würde merken, dass das Blut der Minangkabau in ihren Adern fließt. Doch die Augenfarbe – sie ist wie die meiner Mutter. Meiner Mutter, die ich nicht mehr gesehen habe, seit sie sich auf den Weg zurück in ihr Dorf gemacht hat. Sie wäre so unendlich stolz auf ihre Enkelin. Und ich bin stolz auf meine Tochter, obwohl ich weiß, dass ich mich schwer gegen sie versündigt habe …
Ich habe zeit meines Lebens nicht an irgendwelche Götter geglaubt, doch wer immer mir diese Gnade gewährt hat, sie zu sehen, mit ihr zu sprechen, dem danke ich von Herzen. Auch wenn dieses Herz mir heute noch deutlicher gezeigt hat, wie schwach es eigentlich ist.
27. März 1910
Nach einem Monat Krankheit und Schwäche, der mir beinahe die Zuversicht genommen hat, mein Versprechen einzulösen, kann ich nun endlich wieder zu ihr!
Während mein Herz darum rang, weiterzuschlagen, stellte ich mir mein kleines Mädchen vor, wie es hinter diesem Gittertor stand. Nein, als Gefängnis sah ich es nicht an, es erschien mir viel mehr als das Tor zum Himmel, einem Himmel, von dem ich ausgeschlossen war. Doch ich bin dankbar, dass ich wenigstens einen Blick darauf werfen darf.
Später …
Meine kleine Helen hat die Geige jetzt bei sich, und ich fühle mich irgendwie, als sei ich selbst nun bei ihr, Tag und Nacht, um auf sie achtzugeben. Wir haben verabredet, uns regelmäßig zu treffen, damit ich ihr das Spielen beibringen kann.
Wie gern würde ich sie zu mir nehmen, doch ich kann nicht. Sie würde innerhalb weniger Monate zur Waise werden, und dann gäbe es vielleicht niemanden mehr, der sich so gut um sie kümmern würde wie die Carters.
Aber es gibt noch zwei Dinge, die ich tun muss, bevor ich die Augen für immer schließe.
Das Erste ist bereits erledigt – ich habe Paul einen letzten Brief geschrieben.
Mittlerweile ist mein Groll gegen ihn verschwunden, ein wenig verstehe ich sogar, dass er damals nicht anders konnte. Ja, ich wehre mich noch immer dagegen, dass er aus Boshaftigkeit gehandelt haben soll. Wahrscheinlich wurde er, kaum dass er einen Fuß auf englischen Boden gesetzt hatte, wieder derart von seinen Pflichten eingenommen, dass ihm keine andere Wahl blieb.
Dennoch habe ich Carmichael, mit dem ich trotz des Endes unserer Geschäftsbeziehung in den vergangenen Jahren in sporadischem Kontakt stand, kürzlich gebeten, ihm diese letzte Nachricht von mir zu überbringen. Paul soll wissen, was aus seinem Kind geworden ist. Vielleicht haben ihn die Jahre ebenfalls verändert, und er ist nun bereit, die Verantwortung zu übernehmen. Doch selbst wenn er es nicht tut, weiß ich sie in sehr guten Händen, die Carters sind ihr eine fürsorgliche Familie, und deren Wohlstand kommt ihr sehr zugute.
Und nun setze ich mich noch einmal an den Schreibtisch und verfasse einen Brief an meine Mutter, die ich schon so lange nicht gesehen habe.
Dass ich sie nicht eingeweiht habe in meine Schwangerschaft, dass ich sie nicht eingeladen habe zu meiner Hochzeit, sind weitere schwere Sünden, die ich auf mich geladen habe. Ich wollte um jeden Preis verhindern, dass das Adat Forderungen an mich stellt, dass ich darüber vergessen habe, dass es keine fordernde Alte sein würde, die mich dort erwartet, sondern meine Mutter, meine Mutter, die mich liebt und die mir vielleicht hätte helfen können, mich anders zu entscheiden …
28
Als Lilly wach wurde, war es schon fast Nachmittag. Müde blinzelte sie in das trübe Tageslicht, das durch das Fenster fiel.
Erst nach einigen Minuten wurde ihr klar, dass sie die ganze Nacht mit dem Tagebuch von Rose Gallway verbracht hatte. Das Heftchen lag unter ihr auf dem Kopfkissen und hatte einen Abdruck auf ihrem Gesicht hinterlassen.
Dennoch hatte sie so gut geschlafen wie schon
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