Der Mondscheingarten
durchgenommen?«
Als die beiden Mädchen von ihrem Tag in der Schule zu berichten begannen, lehnte Lilly sich entspannt zurück, glücklich, an diesem Abend Teil einer Familie zu sein. Die beiden trugen die Shirts, die Lilly ihnen geschenkt hatte, und sie war froh darüber, dass sie so gut passten.
»Morgen nehmen wir die Taschen mit in die Schule!«, versprachen die beiden im Chor, als sie in ihrer Erzählung bei Lillys Ankunft angelangt waren.
Nach dem Essen, als die Mädchen gegangen waren, um fernzusehen, bat Ellen Lilly, die Geige zu holen, damit sie sie ansehen konnte. Dean fragte, ob er dabei sein dürfte, was Ellen ein wenig zu verwundern schien. Offenbar interessierte er sich sonst eher für größere Holzbauten.
Lilly trug den Geigenkoffer vor sich her, als enthielte er eine kostbare Reliquie. Das Notenblatt hatte sie wieder unter das Futter geschoben. Ellen sollte das Öffnen des Geigenkastens ähnlich erleben wie sie selbst.
Im Wohnzimmer legte Lilly den Kasten auf dem Beistelltisch neben dem Chesterfield-Sofa ab. Ellen hatte bereits ein Paar weiße Baumwollhandschuhe übergezogen, die an einen Butler erinnerten.
Bedächtig öffnete sie den Deckel und trat dann zur Seite. Das Licht des Kronleuchters über ihnen brachte den rot gemaserten Lack zum Leuchten, ja er schien geradezu zu pulsieren. Erst jetzt bemerkte Lilly, dass die Saiten ein wenig abgenutzt waren, auch sah man der Geige das Alter nun ein wenig mehr an. Aber Lilly ging es nicht nur darum zu wissen, wie alt und wie wertvoll die Geige war. Vielmehr wollte sie herausfinden, warum der alte Mann meinte, dass sie ihr gehören würde.
Als Ellen die Violine sah, sog sie gespannt die Luft durch die Zähne. »Auf den ersten Blick sieht sie ganz normal aus – von dem seltsamen Lack mal abgesehen. Darf ich?«
Lilly nickte, worauf ihre Freundin das Instrument vorsichtig aus dem Kasten hob. »Ein sehr schöner, zierlicher Corpus«, beschied sie, während sie die Geige herumdrehte. »Und da haben wir sie ja.«
Vorsichtig strich Ellen über die Stelle des Lacks, unter dem sich die Rose befand. »Gänzlich unbeschädigt, wenn man mal von den Gebrauchsspuren absieht. Die Rose muss vor dem Lackieren auf das Holz aufgebracht worden sein.« Nun zupfte sie an den Saiten. »Total verstimmt«, stellte sie fest und begann dann, vorsichtig die Saiten zu spannen. »Aber die Wirbel sind erstaunlich gut gepflegt.«
Als sie zufrieden mit dem Klang der Saiten war, zog sie ihre Handschuhe aus und griff nach dem Bogen, spannte die Rosshaarfasern, wachste sie mit etwas Kolophonium und hob das Instrument dann unters Kinn.
»Könntest du vielleicht von dem Notenblatt spielen?«
Lilly zog den Zettel unter dem Deckelfutter hervor, worauf Ellen die Geige wieder absetzte.
»›Mondscheingarten‹«, murmelte sie. »Kein Komponistenname. Vielleicht hat es der alte Mann geschrieben.«
Lilly schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Das Papier muss wesentlich älter sein, und schau dir mal die Schrift an. Ich bekomme manchmal auch Bücher, die mit Inschriften oder handschriftlichen Widmungen versehen sind. Und schau mal, die Tinte! Schwarz, an den Rändern leicht bräunlich. Wenn du mich fragst, ist dieses Notenblatt schon gut hundert Jahre alt.«
Ellen schob die Unterlippe vor, runzelte die Stirn. Das war eindeutig das Zeichen dafür, dass sie versuchte, sich in die Melodie zu vertiefen. Lilly beobachtete sie einen Moment gespannt, während sich Dean noch ein Glas Wein einschenkte.
Nach etwa fünf Minuten ließ Ellen das Blatt wieder sinken.
»Und?«, fragte Lilly. »Ergibt das einen Sinn für dich?«
»Ja, schon, aber es ist sehr ungewöhnlich …« Ellen drehte das Blatt herum, doch außer ein paar Stockflecken war nichts darauf zu finden. »Was das Papier angeht, hast du vielleicht recht, doch wenn ein Komponist des ausgehenden neunzehnten oder beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts das geschrieben hat, muss er sehr progressiv gewesen sein.«
»Dann würde ich vorschlagen, du spielst es für uns, Schatz«, warf Dean ein. »Wer weiß, vielleicht sind wir seit hundert Jahren die Ersten, die dieses Stück zu Gehör bekommen.«
Hatte Ellen vorhin noch entschlossen gewirkt, die Violine auszuprobieren, zögerte sie jetzt.
»Bitte, Ellen«, sagte Lilly. »Ich habe mich die ganze Zeit schon gefragt, wie sich das wohl anhören wird.«
Damit setzte Ellen die Violine wieder an und legte den Bogen auf die Saiten.
Als sie nun die ersten Akkorde spielte, stieg ein
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