Der Mondscheingarten
wenn die Geige irgendwo im Haus versteckt gewesen war, welchen Grund hätte der Käufer, sie Lilly zu geben? Er hätte sie genauso gut verkaufen können …
Lilly kniff die Augen zusammen, reiste gedanklich wieder auf den Dachboden. Gab es irgendwo in der Familie doch etwas, von dem nicht einmal ihre Eltern wussten? Wertvolle Gegenstände wurden nicht auf dem Dachboden aufbewahrt. Man versteckte sie dort, wo niemand sie fand, aber in der eigenen Reichweite. Jedenfalls hatte Lilly das immer getan, wenn sie nicht wollte, dass es jemand fand.
Vielleicht sollte ich Mama anrufen, ging es ihr durch den Sinn.
Dann traf es sie wie ein Schlag. Die Überwachungskamera! Vor drei Jahren hatte sie auf Wunsch ihres Versicherungsvertreters eine in ihrem Laden installiert. Dort musste der alte Mann drauf sein. Warum war sie nicht früher darauf gekommen?
Augenblicklich sprang Lilly im Bett auf. Sunny! Vielleicht konnte sie sie bitten, die Aufnahme der Kamera auf ihren Computer runterzuladen und dann herzuschicken!
Instinktiv griff sie nach dem Handy, das auf dem Nachttisch neben ihr lag, doch dann fiel ihr ein, dass Sunny wahrscheinlich schon im Bett war. Sie würde also bis zum kommenden Morgen warten müssen und sie im Laden anrufen.
Seufzend ließ sie sich wieder in die Kissen sinken. Jetzt fühlte sie sich noch aufgekratzter. Wenn der alte Mann tatsächlich aufgenommen worden war, ergab sich vielleicht die Möglichkeit, ihn aufzuspüren und zu fragen. Wie sie das genau bewerkstelligen sollte, wusste Lilly noch nicht, aber sie war sicher, dass sie irgendwie eine Lösung finden würde.
Schließlich übermannte sie die Bettschwere doch, und als sie dem Traumreich entgegendämmerte, meinte sie, noch einmal die letzten Akkorde des »Mondscheingartens« zu hören.
6
Padang 1902
»Ein wunderbarer Ausblick, findest du nicht?«
Paul Havenden, frischgebackener Lord und seit dem Tod seines Vaters Oberhaupt einer weitverzweigten und höchst prominenten englischen Adelsfamilie, sog die warme, mit den Gerüchen des Hafens versetzte Luft tief in seine Lungen.
Der Ausblick auf das Meer war grandios!
Unter einem wolkenlosen Himmel erstreckte sich ein märchenhaft blauer Spiegel aus Wasser. Ein paar Palmen wiegten sich in der feuchtwarmen Brise, die vom Wasser her durch die Stadt zog. Die Bauten in Hafennähe waren vorwiegend im Kolonialstil gehalten, dem man die niederländische Prägung deutlich ansah. Häuser wie hier – mit breiten Säulen und leicht geschwungenen Dächern – hatte er auch schon in Amsterdam gesehen, allerdings gab es dazwischen auch exotische einheimische Bauten, die der Stadt eine besondere Note verliehen.
Schon seit sie hier angekommen waren, hatten sich seine Beschwerden deutlich gebessert. Von Stunde zu Stunde fühlte er, wie sein Körper die alte Kraft zurückerlangte, wie seine Haut all die Beschwerden ablegte, mit denen er sich im feuchten englischen Klima geplagt hatte. Wie hatte er sich doch besonders in den letzten Monaten nach Wärme gesehnt!
Maggie, Pauls frisch angetraute Ehefrau, schien das allerdings anders zu sehen. Ausgestreckt auf einer Chaiselongue, fächelte sie sich mit einem chinesischen Fächer Luft zu, denn der Deckenventilator schaffte es nicht, die Hitze einigermaßen zu lindern. Der Monsun schien bevorzustehen, denn die Luftfeuchtigkeit war enorm – genau das richtige Wetter, wenn man unter Hautkrankheiten litt – doch die Hölle für eine Frau, die sich in den kühlen Londoner Salons wohl fühlte und auch in den Tropen partout nicht auf das Korsett unter ihren Kleidern verzichten wollte.
»Soweit ich es vom Schiff aus beurteilen konnte, scheint es hier wirklich schön zu sein«, antwortete Maggie ein wenig gequält. »Allerdings wäre es mir mittlerweile lieber, in der Kühlkammer unseres Schiffes zu sein. Die Hitze ist ja kaum auszuhalten. Um sie erträglicher zu machen, müsste ich schon gegen die Schicklichkeit verstoßen.«
Paul lachte auf. »Ach Liebling, du wirst dich schon an das Klima hier gewöhnen. In ein, zwei Wochen willst du von hier gar nicht mehr weg, das verspreche ich dir. Was ist schon das graue England gegen dieses farbenprächtige Juwel! Hast du die bunt gekleideten Menschen am Hafen gesehen? Die Händler? Farben, wohin das Auge reicht! Ein orientalischer Basar könnte nicht prachtvoller sein.«
Ihm zuliebe lächelte Maggie, doch Paul wusste, dass sie alles andere als begeistert darüber war, dass er die Einladung des hiesigen Gouverneurs angenommen
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