Der Mondscheingarten
doch nur ein harmloser Besuch beim Schattenspiel. Danach würden sie auseinandergehen, und alles würde so sein wie früher.
Während Mai nach unten lief, um Bescheid zu sagen, dass ihre Herrin die Einladung annehmen würde, ging Rose zu ihrem Schrankkoffer, der ihr ständiger Begleiter auf der Tournee war. Mai war dafür zuständig, ihre Garderobe stets in Ordnung zu halten, doch obwohl die Kleider alle sehr geschmackvoll waren, zweifelte Rose nun, das richtige dabeizuhaben. Wirkten diese Konzertkleider denn nicht alle zu bieder?
Schließlich entschied sie sich für ein rosafarbenes mit Rüschen und Biesen am Oberteil, das schmale Ärmel und einen ebenfalls recht schmal geschnittenen langen Rock hatte. Das kam einem Abendkleid wenigstens ein bisschen nahe, war aber dennoch nicht zu pompös für einen nächtlichen Spaziergang durch die Stadt.
Sie würde mit Lord Havenden durch das nächtliche Padang wandern! Das erschien ihr immer noch unerhört, doch bevor sie es sich anders überlegte, warf sie ihren Morgenmantel von den Schultern und schlüpfte in ihr Kleid.
Nach fünf Minuten war Mai wieder zurück, um sich um ihr Haar zu kümmern. Ihr Gesicht glühte, als hätte Havenden die wenigen Augenblicke genutzt, um sie gehörig in Verlegenheit zu bringen.
»Ein wirklich schöner Mann!«, schwärmte sie. »Was für blaue Augen er hat!«
»Rede nicht lange, bring lieber meine Frisur in Ordnung«, sagte Rose, während sie vor dem Schminkspiegel Platz nahm. Gehorsam griff Mai nach der Bürste, plapperte aber weiter, was Rose allerdings nicht mehr wahrnahm, denn ihre Gedanken eilten bereits voraus zu dem Stand des Puppenspielers, der wahrscheinlich gerade seine Lampen entzündete und seine filigran gestalteten Lederpuppen überprüfte.
Wie hatte sie diese Kunstwerke als Kind immer bewundert! Jeder Puppentyp war für einen bestimmten Charakter festgelegt. So hatten die Rajahs und Prinzessinnen, die guten Mädchen und rechtschaffenen Weisen immer sehr schlanke Körper mit langen schmalen Nasen, während die Puppen der Bösewichte oft plump waren, Knollennasen hatten und, wenn es sich um Dämonen handelte, auch scheußliche lange Zähne, die furchterregend aus den verzerrten Mäulern herausragten.
Ob die Puppenspieler heute immer noch die Märchen aus ihrer Kindheit spielten?
Als sie endlich fertig war, fühlte sich Rose ein wenig wie Cinderella in dem Märchen, das sie vor langer Zeit im Konservatorium gehört hatte. Obwohl es verboten war, hatte Rose sich immer wieder heimlich in die Küche geschlichen, die Frauen bei der Arbeit beobachtet und hin und wieder einen Mince Pie oder Scones bekommen. Mit diesem Besuch bei den Köchinnen war meist eine Geschichte verbunden, besonders dann, wenn Laura gerade Abenddienst hatte. Während Rose vor dem Feuer saß, lauschte sie den Erzählungen, die so anders waren als die Märchen, die sie aus ihrer Heimat kannte. Auch ihre holländischen Lehrerinnen hatten ihr Märchen und Sagen aus ihrer Heimat erzählt, aber keines war so hübsch gewesen wie das Märchen von Cinderella, die für ihre Stiefschwestern hart arbeiten musste und dennoch mit Hilfe einer Fee endlich ihren Prinzen bekam. Die Stelle, in der Cinderella in ihrem wunderschönen Kleid den Ballsaal betrat, hatte Rose immer besonders geliebt und sich gewünscht, eines Tages ebenso prachtvolle Kleider tragen zu dürfen.
Nun verließ sie ihr Zimmer mit Herzklopfen und der Frage, ob Paul Havenden, wenn schon kein Prinz, aber immerhin ein Lord, in ihr vielleicht die Prinzessin sehen würde, die er auf seinem weißen Pferd in sein Schloss entführen wollte.
Aber nein, mahnte sie sich selbst. Sei nicht so töricht. Sonst schmerzt dir nur das Herz, wenn er wieder nach England reist und du in ein Land am anderen Ende der Welt.
An der Treppe angekommen, entdeckte sie ihn in der Nähe der Hotelrezeption. Anstatt sich in einem bequemen Ledersessel niederzulassen, hatte er es vorgezogen, unruhig auf und ab zu gehen. Das rührte Rose irgendwie. Sonst ließ er sich keine Unsicherheit anmerken, aber jetzt wirkte er wie ein Bräutigam, der auf seine Braut wartete. Der dunkle Anzug mit der blutroten Ascotkrawatte stand ihm ausgezeichnet und betonte den Goldschimmer seines Haars. Unruhig drehte er seinen Gehstock in der Hand, dann holte er seine Taschenuhr hervor und klappte sie auf.
Rose beschloss, ihn nicht mehr länger warten zu lassen. Sie presste ihre Hand auf den Bauch und versuchte, gegen das Flattern darin anzuatmen. Als das
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