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Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Titel: Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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gerichtet. Tage verstrichen, eine Woche, zwei Wochen, ohne eine Rasur oder ein Bad; er konnte nicht einmal einen Moment erübrigen, um sich zu kämmen oder ein frisches Hemd anzuziehen, bis er, aus Mangel an Nahrung und Ruhe,einem seiner makabren Exemplare zu ähneln begann: blutunterlaufene Augen, die tief in den Höhlen eingesunken waren, schwarz umrändert; Haut von der Farbe Kohlenstaubs; Kleider, die lose an seiner ausgemergelten Gestalt herunterhingen. Unausweichlich, so wie auf den Tag die Nacht folgt, brauchte schließlich die Flamme seiner Leidenschaft den Brennstoff seines Geistes und seines Körpers auf, und er brach zusammen, flüchtete sich in sein Bett wie jemand, der an einem tropischen Fieber leidet, schlaff und reizbar, und seine Depression war umso auffallender durch die Intensität der Manie, die ihr vorausging. Den lieben langen Tag und bis weit in die Nacht hinein lief ich dann die Treppe rauf und runter, holte ihm Essen und Trinken und Extradecken, vertröstete Besucher (»Der Doktor ist krank und kann im Augenblick niemanden empfangen«) und saß stundenlang an seinem Bett, während er sein Schicksal beklagte: Seine Arbeit war umsonst. In hundert Jahren würde niemand seinen Namen kennen, seine Leistungen anerkennen, ein Loblied auf ihn singen. Ich versuchte ihn dann zu trösten, so gut ich konnte, versicherte ihm, dass der Tag kommen würde, an dem sein Name im selben Atemzug mit dem Darwins genannt werden würde. Oft wurden diese kindhaften Beistandsversuche mit Geringschätzung abgetan. »Ach, du bist nur ein Junge. Was weißt du schon!«, erwiderte er dann und drehte den Kopf auf dem Kissen um. Zu anderen Zeiten ergriff er meine Hand, zog mich dicht an sich, sah mir tief in die Augen und flüsterte mit Furcht einflößender Intensität: »Du bist es, Will Henry, du, der meine Arbeit fortführen muss. Ich habe keine Familie und werde auch keine mehr haben. Du musst mein Gedächtnis sein. Du musst die Last meines Erbes tragen. Versprichst du mir, dass all dies nicht umsonst gewesen sein wird?«
    Und natürlich versprach ich es ihm. Denn es stimmte: Ich war alles, was er hatte. Ich habe mich immer gefragt, ob ihm jemals in den Sinn gekommen war, diesem Mann, von dem man hätte sagen können, dass es nie einen zweiten von derart gewaltiger, ehrfurchtgebietender Selbstversunkenheit gegeben hatte, dass auch das Gegenteil stimmte: Er war alles, was ich hatte.
    Seine Genesung dauerte für gewöhnlich eine Woche, manchmal auch zwei, und dann geschah immer irgendetwas, ein Telegramm traf ein, eine neue Zeitung oder ein neues Buch über die jüngste Entdeckung kam mit der Post, ein wichtiger Besucher erschien mitten in der Nacht, und der Kreislauf begann von vorn. Der Funke entzündete den Brennstoff. »Mach fix, Will Henry!«, rief er dann wieder. »Auf uns wartet Arbeit!«
    Der Funke, der an jenem nebligen Aprilmorgen von Erasmus Gray an unsere Tür gebracht worden war, hatte bis zur Mittagszeit das Feuer zu weiß glühender Heftigkeit angefacht. Sämtliche Organe waren entnommen, untersucht, katalogisiert und konserviert; alle Maße waren genommen; es gab stundenlanges Diktieren und wissenschaftliche Vorträge über die Natur der Bestie. (»Unser Freund muss das Alphamännchen seiner Schar sein, Will Henry. Nur das Alphamännchen genießt das Privileg, sich fortpflanzen zu dürfen.«) Und nach alldem, ohne die kleinste Atempause, war da noch das Aufwischen. Die Instrumente mussten gereinigt, der Boden mit Lauge geschrubbt, jede Oberfläche mit Bleiche sterilisiert werden. Endlich, lange nach der Mittagsstunde, unfähig mich noch einen Moment länger auf den Beinen zu halten, sank ich auf die unterste Stufe der Treppe, ohne mich darum zu kümmern, ob er mich für meine Trägheit schalt, und sah ihm zu, wie er an die Leiche des Mädchens zurückkehrte, das Laken zurückzog und den Einschnitt in ihrem Magen vernähte. Ohne in meine Richtung zu blicken, schnippte er mit den Fingern.
    »Bring mir die Perlen, Will Henry.«
    Vor Müdigkeit schwankend rappelte ich mich auf und brachte ihm die Schale, die die Perlenkette enthielt. Sie war stundenlang in Alkohol getränkt worden; das meiste Blut hatte sich gelöst und der Flüssigkeit einen recht angenehmen Rosaton verliehen. Er schüttelte das überschüssige Lösungsmittelab, öffnete den Verschluss und drapierte die schimmernde weiße Perlenschnur behutsam um ihren verwüsteten Hals.
    »Was soll man sagen, Will Henry?«, murmelte er, ohne seine dunklen

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