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Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Titel: Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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Abendessen kam – zu spät, weil der Doktor ihn aufgehalten hatte. Es kam auch vor, dass Vater nicht zum Abendessen wiederkam, dass er tagelang nicht wiederkam. Wenn er dann endlich nach Hause kam, hob er, nach meiner freudigen Begrüßung an der Tür, den Blick von meinen bewundernden Augen zu dem alles andere als bewundernden Augenpaar, das meiner Mutter gehörte, lächelte schuldbewusst und zuckte hilflos mit den Schultern und sagte: »Der Doktor hat mich gebraucht.«
    »Was ist mit mir?«, rief sie dann. »Was ist mit deinem Sohn? Was ist mit unseren Bedürfnissen, James Henry?«
    »Ich bin alles, was er hat«, war die standhafte Antwort.
    »Und du bist alles, was wir haben! Du verschwindest tagelang ohne ein Wort zu irgendwem, wohin du gehst oder wann du zurückkommst!«
    »Nun hör aber auf damit, Mary!«, warnte Vater sie dann streng. »Manche Dinge kann ich dir erzählen und manche eben nicht.«
    »Manche kannst du mir erzählen? Was mögen das wohl für Dinge sein, Henry, denn du erzählst mir nichts !«
    »Ich erzähle dir, was ich darf. Und was ich dir erzählen darf ist, dass der Doktor mit einer sehr wichtigen Arbeit beschäftigt ist und er meine Hilfe braucht.«
    »Aber ich tue das nicht? Du drängst mich zur Sünde, James.«
    »Sünde? Von welcher Sünde redest du?«
    »Der Sünde des falschen Zeugnisses! Die Nachbarn fragen: ›Wo ist denn dein Mann, Mary Henry? Wo ist James?‹, und ich muss für dich lügen – für ihn . Oh, wie es mich ärgert, für ihn zu lügen!«
    »Dann lass es doch! Sag ihnen die Wahrheit! Sag ihnen, dass du nicht weißt, wo ich bin.«
    »Das wäre schlimmer als eine Lüge. Was würden sie über mich erzählen – eine Frau, die nicht weiß, wo ihr Mann hingegangen ist?«
    »Ich verstehe nicht, wieso es dich ärgern sollte, Mary. Wenn er nicht wäre, was hättest du dann? Wir verdanken ihm alles.«
    Das konnte sie nicht leugnen, also ignorierte sie es. »Du vertraust mir nicht!«
    »Das stimmt nicht. Ich darf nur einfach sein Vertrauen nicht missbrauchen.«
    »Ein ehrenwerter Mann hat keine Geheimnisse nötig.«
    »Du weißt nicht, wovon du sprichst, Mary. Dr. Warthrop ist der ehrenwerteste Mann, den ich je gekannt habe. Es ist ein Privileg, ihm zu dienen.«
    »Ihm worin zu dienen?«
    »Seinen Studien.«
    »Welchen Studien?«
    »Er ist Wissenschaftler.«
    »Ein Wissenschaftler wovon ?«
    »Von … von gewissen biologischen Phänomenen.«
    »Und was bedeutet das? Von welchen ›biologischen Phänomenen‹ redest du? Von Vögeln? Ist Pellinore Warthrop ein Vogelbeobachter, James Henry, und du der Träger seiner Ferngläser?«
    »Ich werde das nicht diskutieren, Mary. Ich werde dir nicht mehr über die Natur seiner Arbeit sagen.«
    »Wieso?«
    »Weil du es nicht wissen willst!« Zum ersten Mal hob Vater die Stimme. »Ich sage dir ehrlich, dass es Tage gibt, wo ich mir wünschte, ich wüsste es nicht! Ich habe Dinge gesehen, die kein Sterblicher jemals sehen sollte! Ich bin an Orten gewesen, wo selbst Engel sich zu schreiten fürchten würden! Nun bedränge mich nicht weiter in dieser Sache, Mary, denn du weißt nicht, wovon du sprichst. Sei dankbar für deine Unwissenheit und finde Trost in dem falschen Zeugnis, das sie dich abzulegen zwingt! Dr. Warthrop ist ein großer Mann, der sich mit großen Angelegenheiten beschäftigt, und ich werde mich nie von ihm abkehren, selbst wenn die Hölle selbst sich auftut, um mit ihrem Feuer gegen mich zu kämpfen!«
    Und das war dann das Ende davon, wenigstens für einige Zeit; für gewöhnlich ging es wieder los, nachdem er mich ins Bett gebracht hatte. Bevor er sich zu ihr ins Wohnzimmer begab, um ihrem Feuer entgegenzutreten, einem Feuer, das nur unwesentlich weniger heftig als das der Hölle war, küsste er mich immer auf die Stirn, strich mir immer mit der Hand durchs Haar, schloss immer die Augen mit mir, während ich mein Gutenachtgebet sprach.
    Dann, sobald meine dringenden Bitten an den Himmel beendet waren, öffnete ich die Augen und blickte in das freundliche Gesicht und die sanften Augen meines Vaters und war mir auf jene allen Kindern eigene tragisch naive Weise sicher, dass er immer bei mir sein würde.
    »Wohin gehst du, Vater?«, fragte ich ihn einmal. »Ich werde es Mutter nicht verraten. Ich werde es niemand verraten.«
    »Ach, ich war schon an so vielen Orten, Will«, antwortete er. »Manche so seltsam und wunderbar, dass du glauben würdest, du träumst. Manche seltsam und nicht so wunderbar, so finster und

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