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Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Titel: Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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schreckenerregend wie dein allerschlimmster Albtraum. Ich habe Wunder gesehen, die nur Dichter sich vorstellen können. Und ich habe Dinge gesehen, die aus erwachsenen Männern schreiende Babys zu Füßen ihrer Mütter machen würden. So viele Dinge. So viele Orte …«
    »Nimmst du mich mit, wenn du nächstes Mal gehst?«
    Er lächelte. Ein trauriges und wissendes Lächeln, verständnisvoll, in dem das intuitive Wissen eines Mannes lag, der weiß, dass sein Glück nicht unerschöpflich ist, dass der Tag kommen würde, wo er sich auf sein letztes Abenteuer einließ.
    »Ich bin alt genug«, sagte ich, als er nicht antwortete. »Ich bin elf, Vater, fast zwölf – praktisch ein Mann! Ich will mit dir gehen. Bitte, nimm mich mit!«
    Er legte eine Hand auf meine Wange. Seine Berührung war warm.
    »Eines Tages vielleicht, William. Eines Tages vielleicht.«
    Der Monstrumologe verließ mich, um mich in Einsamkeit meinen Kummer durchleben zu lassen. Er begab sich nicht in sein Zimmer, um sich auszuruhen; ich hörte seine Schritte auf den Stufen und, nach einem Moment, das leise Knarren der Tür, die ins Kellergeschoss führte. An diesem Tag würde er nicht schlafen: Das Jagdfieber hatte ihn ergriffen.
    Meine Schluchzer verebbten. Über meinem Kopf war ein kleines Fenster in die Decke eingelassen, und ich konnte transparente Wolken wie stattliche Schiffe über den strahlend saphirblauen Himmel segeln sehen. Beim Schulhaus waren meine ehemaligen Kameraden im Hof und spielten Stickball, machten schnell noch einen letzten Schlagdurchgang, bevor Mr. Proctor, der Rektor, sie wieder zum Nachmittagsunterricht hereinrief. Dann, beim letzten Klingeln, das aufgeregte Rennen zur Tür, der Ausbruch in die milde Frühlingsluft, das Chaos von hundert Stimmen, die im Gleichklang riefen: »Freiheit! Freiheit! Der Tag gehört uns!« Vielleicht wurde das Stickballspiel wieder aufgenommen, mittlerer Durchgang, über die geringfügige Ablenkung der Nachmittagsstunden großzügig hinweggegangen. Ich war klein für mein Alter und kein besonders guter Schlagmann, aber ich war schnell. Als ich die Schule zugunsten des Privatunterrichts Dr. Warthrops verließ, war ich der schnellste Läufer in meinem Team und der Inhaber dermeisten gestohlenen Bases. Ich hatte dreizehnmal einen Rekord heimgestohlen.
    Ich schloss die Augen und sah mich an der dritten Base die Führung übernehmen, an der Grundlinie entlangflitzen, die Augen zwischen Werfer und Fänger hin und her huschend, während ich auf den Wurf wartete und das Herz mir bis zum Hals schlug. Flitzen, noch ein Fuß. Flitzen, wieder einer. Der Werfer zögert; er sieht mich aus den Augenwinkeln. Soll er den Ball zur dritten Base schlagen? Er wartet darauf, dass ich renne. Ich warte darauf, dass er wirft.
    Und ich warte immer noch, als eine Stimme durchdringend in mein Ohr spricht.
    »Will Henry! Steh auf, Will Henry!«
    Ich öffnete die Augen – wie schwer sich die Lider anfühlten! – und entdeckte den Doktor, der mit unrasierten Wangen, zerzausten Haaren und in den Kleidern von der Nacht zuvor in der Öffnung meiner kleinen Bettnische stand und eine Laterne hielt. Mein Verstand brauchte einen Moment, um zu registrieren, dass er von Kopf bis Fuß mit Blut bedeckt war. Bestürzt stieß ich einen Schrei aus und sprang auf.
    »Doktor, geht es Ihnen gut?«
    »Was in aller Welt meinst du, Will Henry? Natürlich geht es mir gut. Du musst schlecht geträumt haben. Jetzt komm mit. Es wird allmählich spät, und es gibt noch viel zu tun bis Tagesanbruch!«
    Er klopfte mit den Knöcheln an die Wand, als wollte er seiner Aussage Nachdruck verleihen, und verschwand über die Leiter nach unten. Schnell zog ich mir ein frisches Hemd an. Ich fragte mich, wie spät es wohl inzwischen war. Über mir versengten die Sterne den Obsidianbaldachin des Himmels; vom Mond war nichts zu sehen. Ich tastete an der Wand entlang, fand meinen kleinen Hut an seinem Haken und setzte ihn auf. Er saß ziemlich eng, wie ich schon sagte, aber irgendwie fand ich darin großen Trost.
    Ich entdeckte den Doktor in der Küche, wo er eine ungesund aussehende Flüssigkeit in einem Topf umrührte, und ich brauchte einen Augenblick, bis mir klar wurde, dass er das Abendessen zubereitete und nicht Fleisch von einem dem Anthropophagen gehörenden Knochen abkochte. Vielleicht ist es ja gar kein Blut , dachte ich. Vielleicht ist er mit meinem Abendessen überzogen. Er mochte ein Genie sein, aber wie bei den meisten Genies erleuchtete seine

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