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Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Titel: Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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Moment, Geist und Gehirn. Der Geist des Erasmus Gray war fort; die sterblichen Überreste dessen Gefäßes schwammen, so leicht und substanzlos wie Popcorn, im Wasser. Welches weiche Stückchen war der Sitz deiner Ambitionen, Erasmus Gray? Welcher Spritzer dein Stolz? Ach, wie absurd doch die Arroganz und Anmaßung unserer Rasse ist! Ist es nicht das Nonplusultra an Überheblichkeit, zu glauben, dass wir mehr sind, als in unserer Biologie enthalten ist? Welche Argumentekönnten vorgebracht, welche triftigen Einwände erhoben werden gegen die Worte des Ekklesiastes: »Eitelkeit der Eitelkeiten, und alles ist Eitelkeit«?
    »Will Henry!«, erscholl die Stimme des Doktors von unten. »Will Henry, wo zum Teufel steckst du? Mach fix, Will Henry!«
    Ich fand ihn in der Bibliothek auf halber Höhe der Leiter, die an den vom Boden bis zur Decke reichenden Regalen angebracht war; er hatte noch immer seinen Reisemantel und die mit Dreck überkrusteten Schuhe an: Offensichtlich konnte er keine Zeit für Waschen und Umkleiden erübrigen. Wortlos zeigte er auf die Regale zu seiner Rechten, und ich rollte die Leiter an die Stelle. Hinter uns, auf dem großen Tisch, der das Zimmer dominierte, lagen vier Bücherstapel auf den Ecken einer großen Landkarte von New Jerusalem und Umgebung.
    »Na, wo steckt es denn?«, murmelte er, während er seinen dünnen Finger über die rissigen Rücken einer Reihe alter Wälzer gleiten ließ. »Wo? Ah, da ist es ja! Fang, Will Henry!« Er zog einen großen Band aus dem Regal und ließ ihn zehn Fuß tief fallen, wo er mit einem dumpfen Aufschlag auf dem Teppich neben mir landete. Ich blickte zu ihm hoch, während er auf mich herabfunkelte, eine Gesichtshälfte dreckverschmiert und die Haare in der Stirn, so verfilzt und schmutzig wie die eines Straßenköters.
    »Ich sagte dir, du sollst es fangen«, sagte er mit leiser, ruhiger Stimme.
    »Tut mir leid, Sir«, nuschelte ich, hob das Buch vom Boden auf und trug es an den Tisch. Ich warf einen schnellen Blick auf den Titel: Die Historien des Herodot . Ich blätterte durch die dünnen Seiten: Der Text war in der Originalsprache Griechisch geschrieben. Ich sah vom Buch auf den Monstrumologen.
    Der Doktor hastete die Leiter herunter. »Warum starrst du mich so an?«
    »Mr. Gray –«, setzte ich an, doch der Doktor schnitt mir das Wort ab.

    »Wir sind Sklaven, wir alle, Will Henry«, sagte er, indes er mir das Buch aus der Hand nahm und es auf den nächsten Stapel legte. »Manche sind Sklaven der Angst. Andere sind Sklaven der Vernunft – oder niederer Begierden. Es ist unser Schicksal, Sklaven zu sein, Will Henry, und die Frage muss lauten, welchem Herren wollen wir unser Joch verdanken? Soll es die Wahrheit oder die Falschheit sein, die Hoffnung oder die Verzweiflung, das Licht oder die Dunkelheit? Ich ziehe es vor, dem Licht zu dienen, auch wenn diese Knechtschaft oft im Dunkel liegt. Nicht Verzweiflung hat mich dazu gebracht abzudrücken, Will Henry; Erbarmen leitete meine Hand.«
    Ich sagte nichts, schluckte aber schwer, und Tränen stiegen mir in die Augen. Er unternahm keine Anstalten, mich zu trösten, und ich bezweifle, dass mich zu trösten seine Absicht war. Es war ihm egal, ob ich ihm verzieh, dass er den alten Mann umgebracht hatte. Er war Wissenschaftler. Auf Vergebung kam es nicht an; Verstehen war alles.
    »Er war von dem Moment an zum Tode verurteilt, als die Kreatur zuschlug«, fuhr er fort. »Nie ist ein absurderer oder heimtückischerer Grundsatz aufgestellt worden als ›Wo Leben ist, ist Hoffnung‹. So wie die Forelle dem Untergang geweiht ist, sobald sie angebissen hat, so gab es auch für ihn keine Hoffnung mehr, sobald die Widerhaken gepflanzt waren. Er würde mir danken, wenn er könnte. So wie ich dir danken würde, Will Henry.«
    »Mir danken, Sir?«
    »Sollte mich eines Tages dasselbe Schicksal ereilen, so bete ich darum, dass du dasselbe für mich tun wirst.«
    Wenngleich es unausgesprochen blieb, so vermittelten doch seine dunklen Augen die logische Folge dieses blasphemischen Gebets: So wie du darum beten solltest, dass ich es für dich tue. Hätte in jenem Loch das Monster stattdessen mich gepackt, hätte er ohne Zweifel nicht gezögert, mir die Gnade der Kugel zu erweisen. Ich diskutierte jedoch nicht mit ihm; ich hatte nicht die Worte zum Diskutieren. Ich, mit meinen zwölf Jahren, hattenur die sprachlosen Proteste eines Kindes, dessen feiner Sinn für Gerechtigkeit von den scheinheiligen vernunftmäßigen

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