Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist
Chancen, so astronomisch klein wie sie sind, der Argumentation Gewicht verschaffen, dass es sich nicht um einen Zufall handelt, dass ich in irgendeiner Weise verantwortlich sein muss für ihr überraschendes Erscheinen so nah bei meinem Wohnsitz. Selbstverständlich hatte ich nichts damit zu tun; die Sache ist für mich ebenso rätselhaft, wie sie es für unseren hypothetischen Juror wäre. Wir können die Möglichkeit eines wirklich außerordentlichen Zufalls natürlich nicht völlig ausschließen, denn ein Zufall könnte es sein, wenngleich ich es bezweifle. Ich bezweifle es.«
Eine Brille. Eine Börse aus Samt, in der sich Uhr und Ehering eines Mannes befanden. Eine verwitterte Pfeife, der Kopf durch jahrzehntelangen Gebrauch so abgeschliffen, dass er cremefarben war. Eine kleine Holzschachtel, die eine Sammlung von Elfenbeinfigürchen enthielt; sie klapperten, als der Doktor sie in seiner teilweise geschlossenen Hand unaufhörlich kreisen ließ, während er die wenigen auf dem Boden des Schrankkoffers verbliebenen Sachen durchwühlte.
»Es gibt keine Universität, die Unterweisung in der Wissenschaft der Monstrumologie anbietet, Will Henry«, sagte er. »Die Gesellschaft veranstaltet regelmäßig Seminare, Zutritt nur mit Einladung, in welchen die herausragenden Ausübenden unserer Profession über die Feinheiten ihrer jeweiligen Fachgebiete dozieren. Die meisten, wenn nicht sogar alle von uns, erlernen die Kunst unter der Anleitung eines offiziell von der Gesellschaft anerkannten Meisters. Ah, da ist es ja!«
Triumphierend hielt er ein ledergebundenes Buch in die Höhe, ebenfalls mit zerschlissener Schnur umwickelt, dessen Deckel und Rücken durch die Abnutzung jahrelangen Gebrauchs wie Speck glänzten.
»Hier, Will Henry, halte mal einen Augenblick«, sagte er und ließ die Elfenbeinfiguren in meine Hand fallen. Er riss dieSchnur von dem Buch, indes ich die Statuetten untersuchte, deren vorübergehender Besitzer ich geworden war und die noch warm von seiner Hand waren. Es waren insgesamt sechs, filigran geschnitzt und skelettartig in der Darstellung, mit unverhältnismäßig großen, grimassierenden Totenschädeln und über dem Brustkorb gekreuzten Armen, welcher nicht zylindrisch wie Zigarren, sondern vorn und hinten flach wie Dominosteine war. Obwohl er in das alte Buch vertieft war – bei dem es sich um so etwas Ähnliches wie ein Tage- oder Reisebuch zu handeln schien, das in eleganter Handschrift verfasst war und dessen Seitenränder hier und da von einer Skizze gefüllt wurden –, muss dem Doktor meine Neugierde aufgefallen sein, denn er sagte: »Wahrsageknochen aus Neuguinea. In seinen späteren Jahren war mein Vater fasziniert von den okkulten Praktiken gewisser schamanistischer Stämme. Die hier wurden von einem Priester aus den Knochen eines Rivalen angefertigt.«
Kein Elfenbein also. Menschenknochen. Der Doktor fuhr fort: »Obwohl ›fasziniert‹ ein zu mildes Wort dafür ist; ›besessen‹ trifft es besser. Er hatte panische Angst vor seiner eigenen Sterblichkeit; wie viele betrachtete er seinen bevorstehenden Tod als Verletzung seiner Würde, die äußerste Beleidigung, und seine letzten paar Jahre wurden von der Begierde verzehrt, die natürliche Ordnung zu beschwindeln oder wenigstens des Todes eisiger Umarmung ein oder zwei kärgliche Momente über das ihm Zustehende hinaus abzuringen. Die Knochen in deiner Hand können angeblich die Zukunft desjenigen voraussagen, der sie wirft, wie das sprichwörtliche Werfen der kosmischen Würfel. Zu interpretieren wie sie fallen – die verschiedenen Kombinationen von Gesicht oben oder Gesicht unten –, ist eine komplizierte Angelegenheit, die er nie völlig meisterte, aber er brachte Stunden damit zu; er war alles andere als nachlässig in seinem diesbezüglichen Streben. Von den Formeln ist mir nicht mehr viel gegenwärtig, doch weiß ich noch, dass das Würfeln von sechs Mal Gesicht unheilvolle Bedeutung hat, nahen Tod oder ewige Verdammnis oder derlei Unsinn.«
Plötzlich und mit einem Triumphschrei erhob er sich. Erschrocken wich ich ein oder zwei Schritte zurück, die Knochen entglitten meiner Hand und ergossen sich klappernd auf den Teppich. Mit Beklommenheit bückte ich mich, um sie aufzulesen, denn ich fürchtete, sechs boshafte Totenschädel höhnisch zu mir hochgrinsen zu sehen. Vier oben. Zwei unten. Ich wusste natürlich nicht, wie mein unbeabsichtigter Wurf zu deuten war, aber ich war nichtsdestoweniger erleichtert. Ohne
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