Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist
Blick auf die Karte, wobei ihre Augen in dem Zuviel an Fleisch, das sie umgab, fast verschwanden.
»Dr. Warthrop«, las sie vor. »Ha! Dr. Warthrop ist tot; das weiß ich ganz sicher. Sie müssen ein Hochstapler sein.«
»Nein, ich bin sein Sohn.«
Ihr Mund bewegte sich einen Moment lang geräuschlos, und die alten Augen huschten von der Karte zu seinem Gesicht und wieder zurück.
»Er hat nie erwähnt, dass er einen Sohn hat«, sagte sie schließlich.
»Ich bin sicher, dass es viele Dinge persönlicher Natur gibt, die er versäumte, Ihnen anzuvertrauen«, meinte der Doktor trocken. »Wie ich schon dargelegt habe, bin ich in einer Angelegenheit von außerordentlicher Wichtigkeit hier, könnten Sie deshalb, wenn es nicht zu viele Umstände macht, auf die schnellste Weise, derer jemand Ihres fortgeschrittenen Alters fähig ist, Ihren Arbeitgeber von meiner Anwesenheit in Kenntnis setzen und meinen dringenden Wunsch, mit ihm zu sprechen, übermitteln, möglichst ehe aus dem Abend der Morgen wird.«
Sie schlug uns jählings die Tür vor der Nase zu. Der Doktor stieß einen übertriebenen Seufzer aus. Während die Sekunden sich in Minuten verwandelten, bewegte er sich nicht, sondern stand still da wie eine Statue, gestützt auf seinen Spazierstock, den Kopf gesenkt, die Augen halb geschlossen, als ob er seine Energie aufsparte und seine geistigen Fähigkeiten für eine bevorstehende Prüfung sammelte.
»Wird sie wiederkommen?«, fragte ich, als ich es nicht länger aushielt. Es kam mir so vor, als stünden wir schon seit Stunden auf dieser Veranda.
»Sie hat die Riegel nicht vorgeschoben«, sagte er. »Deshalb habe ich Hoffnung.«
Endlich hörte ich eilige Schritte näher kommen, und die Tür wurde aufgerissen und ein alter Mann erschien – wenn auch nicht ganz so alt wie die alte Vettel, die ein paar Schritte hinter ihm in die Empfangshalle geschlurft kam. Er hatte sich hastig angekleidet, indem er einen staubigen Gehrock über sein Nachthemd geworfen hatte, es dabei jedoch versäumt, sich dem wesentlichen Punkt seiner bettverfilzten Haare zu widmen: Die büscheligen weißen Strähnen hingen ihm bis fast auf die Schultern herab, ein durchsichtiger weißer Vorhang, der über seine enormen Ohren fiel und seine gefleckte Kopfhaut enthüllte. Seine Nase war lang und spitz, seine blauen Triefaugen klein, sein Kinn schwach und mit Stoppeln gesprenkelt.
»Dr. Starr«, sagte der Monstrumologe. »Mein Name ist Pellinore Warthrop. Ich glaube, Sie kannten meinen Vater.«
»Es ist ein mitleiderregender Fall«, sagte der alte Mann und stellte mit zitternder Hand seine Tasse ab. Das Porzellan klirrte, und ein brauner Teetropfen bahnte sich einen Pfad an der Außenseite der Tasse nach unten. »Von besonderem Interesse für Ihren Vater.«
»Nicht nur für ihn«, sagte der Doktor.
Wir saßen in dem kleinen Sprechzimmer direkt neben der Empfangshalle. Der Raum war wie der Rest des Hauses, kalt, mangelhaft beleuchtet und schlecht belüftet. Ein eigenartiger, widerwärtig süßer Geruch hing in der Luft. Er war mir schon aufgefallen, als wir hereingekommen waren – er und das undeutliche, gedämpfte Geräusch unsichtbarer Menschen irgendwo in dem mit Schatten überladenen alten Haus: Stöhnen, Husten, Heulen, Verzweiflungsschreie, Wutschreie, Angstschreie und, gleichsam schwebend wie ein kraftloser Kontrapunkt zu dieser Kakophonie, schrilles, hysterisches Gelächter. Sowohl mein Herr wie auch Dr. Starr ignorierten das Tollhaus hinter den Kulissen und zollten ihm nur durch leichtes Heben ihrer Stimmen Tribut. Ich hingegen musste feststellen, dass mich der Tumult fast selbst in den Wahnsinn trieb und mich zwang, bis auf den Grund meiner Quelle stoischer Seelenstärke einzutauchen, um mir die Frage an den Doktor zu verkneifen, ob ich nicht draußen bei den Pferden warten könnte.
»Sie haben also seinen merkwürdigen Beruf ergriffen«, wagte der Irrenarzt zu äußern. »Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Dr. Warthrop: Bis heute Abend wusste ich nicht einmal, dass er einen Sohn hatte.«
»Mein Vater lebte sehr zurückgezogen«, brachte der Doktor vor. »Er empfand menschliche Vertrautheit als … unangenehm. Ich war sein einziges Kind, und ich kannte ihn kaum.«
»Wie es zu oft der Fall ist bei einem Mann wie Ihrem Vater«, bemerkte Dr. Starr. »Seine Arbeit bedeutete ihm alles.«
»Ich bin immer davon ausgegangen, es war mehr der Tatsache geschuldet, dass er mich nicht mochte.«
Dr. Starr lachte, und tief in seiner
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