Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist
geworfen, vergessen. Wie wundersam sonderbar, wie entsetzlich tragisch die ironischen Launen und Wendungen des Schicksals doch sind! Oft rächen wir uns lange nach begangener Tat an schuldlosen Ersatzpersonen und wiederholen dabei die Sünden jener, die wider uns gesündigt haben, und erhalten so den Schmerz, den wir durch deren Hand erlitten, aufrecht ad infinitum. Sein Vater hatte sein Flehen zurückgewiesen, also wies er meins zurück, und ich – in der sonderbarsten Laune von allen – war er , der isolierte und einsame kleine Junge auf der Suche nach Zustimmung und Anerkennung von der einen Person, von der sie am meisten bedeuteten. Es verletzte seinen Stolz und verdoppelte seinen Zorn: Zorn auf seinen Vater, weil dieser seine Bedürfnisse ignoriert hatte, Zorn auf sich selbst, überhaupt erst Bedürfnisse gehabt zu haben.
»Ach, hör damit auf!«, brummte er. »Lass dieses unerträgliche, wehleidige Getue! Ich habe dich nicht aufgenommen, um mein Koch oder Kindermädchen zu sein, noch aus sonst einem Grund außer dem Dank, den ich deinem Vater für seine selbstlosen Dienste schuldete. Du hast Potenzial, Will Henry. Du bist gescheit und wissbegierig und nicht ohne ein gewisses Feuer in deinem Innersten, unentbehrliche Qualitäten beieinem Assistenten und, vielleicht, einem zukünftigen Wissenschaftler, aber gib dich nicht der Illusion hin, du seist mehr als das: ein Assistent, der mir durch unglückselige Umstände aufgezwungen wurde. Du bist nicht hier, um für mich zu sorgen; ich bin hier, um für dich zu sorgen. Nun iss diese feine Suppe auf, auf die du so unerklärlich stolz bist, und dann geh in den Wagenschuppen, um unsere Pferde bereit zu machen. Bei Einbruch der Dunkelheit brechen wir auf.«
SECHS
»Was ist mit den Fliegen?«
In jener Nacht ritten wir geradeswegs durch bis nach Dedham, eine dreistündige Reise über holprige und abgeschiedene Straßen, und hielten nur einmal an, um den Pferden eine Pause zu gönnen, und ein weiteres Mal, knapp außerhalb der Stadtgrenzen, um uns unauffällig in den Wald zu schlagen, damit wir nicht von einer entgegenkommenden Kutsche bemerkt wurden. Die Nacht war so kühl, dass der Atem unserer Pferde dampfte, als wir mit den tiefen Schatten der Bäume verschmolzen. Der Doktor wartete, bis die Hufschläge und das Klappern der Holzräder verklungen waren, ehe wir unsere Reise fortsetzten. Wir machten nicht langsamer, bis wir die ersten paar Häuser erreichten, die am Stadtrand standen. Helle Lampen erfüllten sie mit warmem Schein, und ich stellte mir die Familien vor, die darin verborgen waren, jeder in der Wärme der Gesellschaft der anderen, wie sie am normalen Verlauf eines Dienstagabends teilnahmen, Vater am Kamin, Mutter bei ihren Kindern, ohne beunruhigende Gedanken an Monster, die in der Dunkelheit lauerten, außer in den Köpfen der fantasiereichsten ihrer Kinder. Der Mann, der neben mir ritt, laborierte nicht an den naiven Illusionen wohlmeinender Eltern, die, mit ruhiger Stimme und sanfter Berührung, die hellen, heißen Gluten der feurigen Einbildungskraft eines Kindes löschten. Er kannte die Wahrheit. Ja, mein liebes Kind , würde er zweifellos einem verängstigten Kleinkind, das zitternd Beistand suchte, erzählen, Monster gibt es tatsächlich. Eins davon hängt gerade bei mir im Keller.
Wir waren noch nicht weit auf Dedhams Hauptstraße gekommen, als Warthrop sein Pferd auf einen schmalen Weg lenkte, der sich durch einen dichten Pappelbestand schlängelte und an dessen Anfang an einer rostigen Stahlpike ein kleines, unauffälliges Schild hing: MOTLEY HILL SANATORIUM. Durch Bäume und wirre Knäuel von Unkraut und Kletterpflanzen ritten wir weiter, langsamer jetzt, denn das Gelände stieg an. Der Wald schloss uns ein; das Laubdach sank immer tiefer herab und verdunkelte die Sterne, als wären wir in einen dunklen und gewundenen Tunnel eingetaucht. Außer dem gleichbleibenden Klippklapp der Hufe auf der harten Erde gab es keinerlei Geräusche. Kein Grillengezirpe, kein Froschgequake. Nichts störte die tiefe und unheimliche Stille, die sich bei unserem Eintauchen in diesen kimmerischen Weg weniger herabsenkte als vielmehr hart auf unsere Köpfe herunterkrachte. Die Pferde wurden furchtbar nervös, schnaubten und stampften auf, während wir uns emporarbeiteten. Der Doktor wirkte ganz gefasst, doch was mich betraf, so ging es mir nicht viel besser als meiner kleinen Stute, deren Blicke genau wie meine durch die zunehmende Schwärze huschten. Der
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