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Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Titel: Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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den Inhalt des Koffers inventarisiert; vielleicht wusste er ja genau Bescheid über den Schlüssel, der in den ausgehöhlten Kopf gesteckt worden war.
    »Pferde, Will Henry! Essen, Will Henry!«
    Mein Abstieg ins Laboratorium hatte nichts von dem Schrecken meiner vorherigen Expedition, denn unten strahlten die Lichter, und der Doktor war da; er stand vor dem aufgehängten Kadaver des Anthropophagen-Männchens. Der Doktor drehte sich nicht um, als ich mit meiner Last die Treppe heruntergepoltert kam, sondern hielt mir den Rücken zugekehrt und betrachtete mit verschränkten Armen und schräg gelegtem Kopf die vor ihm hängende Bestie. Ich schob den Schrankkoffer seines Vaters unter die Treppe und ging dann, ein bisschen außer Atem, auf ihn zu.
    »Doktor«, rief ich leise. »Was möchten Sie essen?«
    Er drehte sich nicht um. Er hob die rechte Hand und fuhr mit seinen Fingerspitzen durch die Luft, eine abweisende Geste, und sagte nichts. Ich dachte daran, den Schlüssel zu erwähnen, entschied mich aber schnell dafür zu warten, bis seine Laune sich gebessert hatte. Ich kehrte nach oben zurück, um zusammenzukratzen, was unsere verarmte Speisekammer an Nahrung hergab. Ich war ausgehungert.
    Eine halbe Stunde später platzte er in die Küche, und obwohl er sich nach seiner Rückkehr vom Friedhof gewaschen und umgezogen hatte, war seine Person vom unten verweilenden Gestank des Todes durchtränkt, der ihn jetzt als widerliches Aerosol umgab. Er sah mich am Tisch sitzen, blickte auf die dampfende Schüssel vor mir und betrachtete anschließend ihr Gegenstück bei dem Gedeck auf der anderen Seite des Tischs, daneben die sorgfältig gefaltete Serviette und der polierte Löffel, die Teekanne und die frische Tasse Tee, von deren schwarzer Oberfläche aromatischer Dampf aufstieg.
    »Was ist das?«, wollte er wissen.
    »Suppe, Sir.«
    »Suppe?« Als hätte er das Wort noch nie gehört.
    »Kartoffelsuppe.«
    »Kartoffelsuppe«, echote er.
    »Ja, Sir. Ich habe zwei leidlich gute im Verschlag gefunden und ein paar Möhren und eine Zwiebel. Wir hatten weder Fleisch noch Rahm, deshalb habe ich Wasser und etwas Mehl genommen, um sie zu binden.«
    »Um sie zu binden.«
    »Ja, Sir; Mehl, Sir, um sie zu binden.«
    »Mehl«, sagte er.
    »Sie ist nicht schlecht«, sagte ich. »Ich bin auf meinem Weg zum Postamt an der Bäckerei vorbeigekommen, aber Sie hatten mir aufgetragen, nicht anzuhalten, also habe ich das nicht, und wir haben kein Brot dazu. Sie sollten essen, Sir.«
    »Ich habe keinen Hunger.«
    »Aber Sie haben gesagt, wir sollten essen, bevor –«
    »Ich weiß, was ich gesagt habe!«, unterbrach er mich mürrisch. »Wenige Dinge sind unangenehmer für einen Menschen, Will Henry, als die eigenen Worte vorgehalten zu bekommen, als sei er ein Schwachsinniger, der sich nicht an sie erinnern kann. Du bist doch derjenige, der sich nicht daran erinnern kann, was gesagt wurde, welches war, dass du etwas essen sollst, bevor wir aufbrechen.«
    »Aber ich esse doch etwas, Sir.«
    »Gott im Himmel!«, rief er aus. »Bist du konfus, Will Henry? Leidest du an irgendeinem geistigen Defekt, von dem ich nichts weiß?«
    »Nein, Sir; das heißt, ich glaube nicht. Ich dachte nur, Sie möchten vielleicht etwas Suppe.« Ich konnte meine Unterlippe zittern spüren.
    »Eine Schlussfolgerung, die auf einer falschen Prämisse beruht!«, fuhr er mich an. »Ich bin nicht hungrig.«
    Ich senkte die Augen: Die Intensität seines Blicks war unerträglich. Seine dunklen Augen funkelten vor unbegreiflicher Wut; sein ganzes Wesen bebte vor ihrer Stärke. Was war bloß los?, fragte ich mich. Empfand er meine Aufmerksamkeit als ihr Gegenteil, als einen vorsätzlichen Akt des Ungehorsams? Oderwar, nachdem er eben erst an das kalte und angespannte Verhältnis zu seinem Vater erinnert worden war, dieser kleine Akt der Freundlichkeit und Ergebenheit bloß Salz in die Wunde, die, aufgrund der jetzt immerwährenden Unzugänglichkeit seines Vaters, nie heilen würde?
    Obwohl er über meiner zusammengekauerten und zitternden Gestalt emporragte, ein erwachsener Mann auf dem Höhepunkt seiner Fähigkeiten, sah ich vor meinem geistigen Auge den kranken und einsamen Jungen, einen Fremden in einem fremden Land, der an einen Mann schrieb, dessen Aufmerksamkeit und Zuneigung er sich verzweifelt wünschte, einen Mann, der seine kindliche Ergebenheit mit der äußersten Demütigung väterlicher Zurückweisung zu vergelten pflegte: ungeöffnete Briefe, in eine alte Kiste

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