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Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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Wange berühren, und ließ sie schnell wieder sinken, als er mich aus dem Augenwinkel heraus sah.
    »Will Henry!«, fuhr er mich an. »Wieso hältst du dich ständig in meiner Nähe auf wie Banquos Geist?« Er wandte sich wieder ihr zu. »Na schön. Deine verdammte Dickköpfigkeit hat mich zermürbt, gnädige Frau. Aber bestimmt hast du keine Einwände, wenn Bartholomew bei dir bleibt.«
    Von Helrung hielt das für eine ausgezeichnete Idee, und Muriel ließ sich erweichen, um die beiden zu beschwichtigen. Ihre Besorgnis schien sie zu amüsieren.
    »Und du rufst mich an, sobald du angekommen bist. Ich will mir keine Sorgen machen müssen, Liebchen !«, rief von Helrung ihr von der Tür aus zu. Er wartete, bis der Hansom sich im Verkehr verflüchtigt hatte, bevor er die Tür schloss. Mit einem schweren Seufzer fuhr er sich mit einer pummeligen Hand durchs Haar.
    »Mein Herz grämt sich um sie, Pellinore. Die liebe Muriel steht unter Schock. Die Wahrheit, dass John für immer für uns verloren ist, ist noch nicht in ihren Geist eingedrungen.«
    »Ich wünschte wirklich, du würdest mit diesem melodramatischen Gefasel aufhören!«, sagte mein Herr. »Es zerrt an meinen Nerven. Er mag verloren sein, wie du sagst, aber es wird beträchtlich kürzer sein als für immer. Ich rechne damit, dass Inspektor Byrnes binnen einer Stunde anrufen wird, um uns von seiner Verhaftung oder seinem Tod in Kenntnis zu setzen.«
    Der Anruf kam weder in dieser Stunde noch in der nächsten oder der darauffolgenden. Schatten krochen über die Fifth Avenue. Von Helrung rauchte Zigarre um Zigarre und erfüllte den Raum mit dem schädlichen Dunst, während der Doktor auf und ab ging und immer wieder wie besessen seine Taschenuhraufschnappen ließ. Ab und zu blieb Warthrop vor dem Fenster stehen, um die Straße nach dem Brougham des Oberinspektors abzusuchen. Um Viertel nach vier, als die Sonne sich auf den Hudson zuschob, steckte das Dienstmädchen den Kopf ins Zimmer, um nachzufragen, ob der Doktor und sein Mündel zum Abendessen bleiben würden.
    Warthrop erschauderte bei der Frage; sie schien die Macht der Trägheit über ihn zu brechen.
    »Ich denke, Will Henry und ich werden uns in die Mulberry Street begeben«, sagte er. »Wir können ebenso gut im Polizeihauptquartier auf Nachricht warten wie hier. Lass es uns telefonisch wissen, wenn du irgendetwas hörst, Meister Abram.«
    Die Zigarre fiel dem alten Mann aus dem Mund und rollte über den teuren Teppich. »Was?«, rief er und sprang aus seinem Sessel auf. » Lieber Gott , was ist los mit mir? Wie konnte ich so dumm sein?«
    Er stürzte an die Haustür und rief nach dem Dienstmädchen, sie solle Timmy – den Stalljungen – die Kalesche herbringen lassen. Er klopfte fieberhaft seine Taschen ab, bis er schließlich aus irgendeiner Innentasche seiner Jacke einen Derringer mit Perlengriff zog.
    »Was ist?«, wollte Warthrop wissen.
    »Vielleicht gar nichts – vielleicht alles, Pellinore. In meinem aufgewühlten Zustand habe ich es völlig vergessen, und jetzt bete ich darum, dass es nichts zu bedeuten hat – ja, ich bete darum! Hier.« Aus einer anderen Tasche zog er ein Messer mit langer Klinge, das in einer Lederscheide steckte, und drückte es dem Doktor in die Hände. »Denk dran, ziel auf das Herz! Und schau ihm nie – nie! – in die Augen!«
    Er riss die Tür auf und rannte zum Bordstein, wo ein Junge saß, nicht viel älter als ich, und die Zügel einer tief liegenden Kalesche hielt. Wir eilten ihm nach. »Sag mir, was du vergessen hast, von Helrung!«, verlangte Warthrop.
    »Muriel, mein Freund. Muriel! Sie hat nicht angerufen!«
    Ein paar Blocks nördlich des Plaza Hotels, am Central Park gelegen, stand die Residenz der Chanlers breit in der Mitte der »Straße der Millionäre«, einer Reihe von palastartigen Wohnsitzen, die die Fifth Avenue über der Fünfzigsten Straße säumten, Villen von solch überwältigender Größe und architektonischer Extravaganz, dass sie den Charakter ihrer Eigentümer vollendet widerspiegelten. Hier lebten die Titanen des amerikanischen Kapitalismus und Inkarnationen des Gilded Age – Familien mit Namen wie Gould und Vanderbilt, Carnegie und Astor, mit denen Muriel jetzt, durch Heirat, entfernt verwandt war.
    Das Chanler-Haus war keineswegs das größte dieser Anwesen; dennoch, verglichen mit den Unterkünften, in denen »die andere Hälfte« der Stadt wohnte – den überfüllten und dreckigen Mietskasernen –, war es ein Schloss im Stil eines

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