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Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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Er breitete die langen Arme weit aus, streckte die Brust heraus und bot sich ihren Kugeln dar.
    »Dann los, tut es, Teufel nochmal! Erschießt uns alle kaltblütig und nehmt euren kostbaren Outiko !«
    Einen qualvollen Moment lang glaubte ich, sie würden genau das tun. Ihre Gewehre blieben unentwegt auf uns gerichtet. Ich hörte Hawk murmeln: »Warthrop, an dieser Entscheidung wäre ich gern beteiligt worden.« Ansonsten war alles still – jene schreckliche, bedeutungsschwere Stille vor dem Waffengeklirr der Schlacht.
    Ihr Anführer sprach, und langsam ließen seine Männer die Waffen sinken. Er sagte etwas zu Warthrop.
    »Nun?«, fragte der Doktor Hawk.
    »Er hat gesagt: ›Sie sind ein Narr.‹« Der Sergeant holte tief Luft. »Und ich glaube, ich bin mit ihm einer Meinung.«
    Hawks Meinung bedeutete dem Doktor so viel wie die jedes anderen – das heißt, so gut wie gar nichts. Er wartete, bis unsere Verfolger ihre Boote gewendet hatten und der Nebel sie verschluckt hatte, bevor er an die Seite seines auf dem Boden liegenden Freundes eilte und mir mit einem Fingerschnalzen zu verstehen gab, seinen Rucksack zu holen und mich zu ihm zu gesellen. Der Sergeant verweilte zwischen der Baumreihe und dem Ufer und hielt Wache für den Fall, dass die Iyiniwok es sich anders überlegen sollten.
    Warthrop kniete sich neben das ohnmächtige Opfer und zog ihm die Lider zurück, um die Augen zu untersuchen. Sie waren blutunterlaufen und leicht gelb, ruhelos in ihren Höhlen, die Pupillen zogen sich zusammen und weiteten sich in einem pulsierenden Rhythmus wie kleine schwarze Herzen. Im grauen Licht des Waldes schien sein Gesicht bar jeglicher Pigmentierung zu sein, weiß wie Papier und genauso dünn, straff über Wangen und Stirn gespannt, sodass die Kieferknochen hervorstanden wie große Fingerknöchel, die hartnäckig gegen das Fleisch drückten. Die Lippen waren geschwollen und leuchtend rot, ein abscheulich komischer Kontrast zu der bleichen Haut, und mit Haarrissen geädert, aus denen milchiger Eiter sickerte.
    Der Doktor fuhr ihm mit den Fingern durch das dichte, rotblonde Haar. Flaumige Büschel lösten sich bei der Berührung von der Kopfhaut. Die Brise erfasste ein paar verirrte Strähnen und wehte sie, wirbelnd wie Löwenzahnsamen, in die tiefe Düsternis des Waldes.
    Vor Anstrengung ächzend befreite der Doktor den Mann aus dem Kokon der alten Decke. Man hatte ihn bis auf die Unterwäsche ausgezogen; diese hing schlaff um seine ausgemergelte Gestalt, aber ich konnte die Rippen, die in den Stoff stießen, deutlich erkennen. Warthrop hob einen knochigen Arm hoch und drückte die Finger aufs Handgelenk. Die Abdrücke seiner Finger blieben zurück, nachdem der Doktor sie wieder weggenommen hatte, wie Fußspuren in nassem Sand.
    »Schwere Dehydrierung«, bemerkte er ruhig. »Hol die Feldflasche – aber zuerst nehme ich das Stethoskop.«
    Er schob das dünne Unterhemd bis zum Kinn des Mannes hoch und horchte mehrere Minuten lang nach dem Herzschlag. Ich konnte das aufgeregte Pumpen unter der geschwächten Haut tatsächlich sehen . Als ich mit dem Wasser zurückkam, war der Doktor damit befasst, die Hände über die Storchenbeine des Mannes mit ihren knochigen Knien auf und ab und dann zum Rumpf hoch gleiten zu lassen, wo er sanften Druck ausübte.Überall, wo er den Körper berührte, hinterließen seine Finger Dellen in der blassen Haut.
    Er drückte die Öffnung der Feldflasche an die aufgedunsenen Lippen, und Rinnsale der lebenspendenden Flüssigkeit quollen aus beiden Seiten des gurgelnden Mundes. Warthrop hob den Kopf des Mannes auf seinen Schoß, beugte sich hinab und hielt ihn zärtlich fest wie ein Kind, indem er ihm eine Hand ums Kinn legte und mit der andern einen dünnen Strahl durch die halb geöffneten Lippen goss. Der übergroße Adamsapfel geriet in ruckartige Bewegung, als jeder Schluck hinuntergezwungen wurde. Der Doktor seufzte leise auf und sagte sanft: »John. John.«
    Und dann lauter, sodass seine Stimme in den Bäumen tönte: »John! John Chanler! Kannst du mich hören?«
    Sergeant Hawk erschien, das Gewehr in der Armbeuge. Er betrachtete das Tableau einen Moment lang und sagte: »So, das ist also Chanler?«
    »Nein, Sergeant, das ist Grover Cleveland«, antwortete der Doktor sardonisch. Mit untypischer Behutsamkeit zog der Monstrumologe die Decke wieder über Chanler.
    »Er ist ernstlich dehydriert und unterernährt«, teilte Warthrop Hawk mit. »Und gelbsüchtig; möglicherweise ist seine Leber im

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