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Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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war nicht wach zu kriegen. Ich sammelte Holz für unser Feuer, bevor das letzte Licht ausgelöscht wurde. Hawk machte eine Bestandsaufnahme von unserem kärglichen Proviant undkalkulierte, dass wir noch genug für weitere fünf Tage hatten. Danach würden wir von dem leben müssen, was das Land uns zur Verfügung stellte.
    »Ich hatte vor, unsere Vorräte am Sandy Lake aufzustocken«, sagte er zu seiner Verteidigung, als der Doktor bei dieser ziemlich schlechten Nachricht eine Braue hochzog. »Sie haben mir nicht gesagt, dass eine Entführung stattfinden würde.«
    Der Sergeant schien nicht ganz auf der Höhe zu sein. Seine Augen standen nicht still; sie bewegten sich ruhelos nach rechts und links und wieder zurück, und er schien nicht aufhören zu können, sich die Lippen zu befeuchten.
    »Wie ist es Ihnen gelungen, ihn zu finden?«, fragte er.
    »Fiddler. Ich dachte, wenn John am Leben wäre, würde Fiddler vielleicht nach ihm sehen, und es war wahrscheinlich, dass er es nicht riskieren würde, solange wir wach waren. Und meine Vermutung war richtig. Kurz nach zwei kam er aus seinem Wigwam, und ich folgte ihm. Wie zu erwarten, hatten sie John in ein Zelt am Nordrand des Dorfes gesteckt, weit entfernt von den andern. Es ist üblich unter eingeborenen Völkern, ein ›Krankenhaus‹ zu errichten, um Mitglieder, bei denen Ansteckungsgefahr besteht, vom Rest des Stammes abzusondern.
    Danach war es nur noch eine Frage der Zeit und der Vorbereitung. Es war keine Wache postiert. Ich brauchte bloß zu warten, bis Fiddler zu Bett ging.«
    »Was meinen Sie, was hat sich zugetragen?« Hawk starrte auf die offene Klappe des Zelts, in dem Chanler lag; das Weiß der Decke war im Schein des Feuers kaum zu sehen.
    »Ich kann nur Vermutungen anstellen«, antwortete der Doktor müde. »Entweder stieß er zufällig auf ihr Lager, oder jemand fand ihn und brachte ihn dorthin. Er hatte sich wahrscheinlich verirrt, hatte sich von Larose getrennt – so viel gab der Mann in seinem Brief an Muriel zu –, und es hat ihn fast das Leben gekostet.«
    »Das wird es auch noch, wenn Sie nicht wissen, was Sie machen«, pflichtete Hawk ihm bei. Seine Augen flitzten zum Doktor hin. »Muriel … ist das die Missus?«
    »Ja.«
    »Hm.«
    »Was?«
    Der Sergeant warf einen Blick in meine Richtung. »Nichts«, sagte er.
    »Offensichtlich nicht.«
    »Hab mich nur geräuspert.«
    »Sie haben sich nicht geräuspert. Sie sagten ›hm‹. Ich würde gerne wissen, was Sie damit meinten.«
    »Ich habe gar nichts gemeint. Hm. Das war alles, Doktor. Nur hm.«
    Warthrop schnaubte. Er warf den Bodensatz seines Tees in den Schatten und bückte sich ins Zelt, um bei seinem Patienten zu sein. Hawk sah mich noch einmal an, und um seine Lippen spielte ein schiefes Lächeln.
    » J’ai fait une maîtresse y a pas longtemps« , sang er leise.
    »Und hören Sie mit diesem infernalischen Singen auf!«, rief der Doktor.
    Der Sergeant leistete Warthrops barsch geäußertem Begehr Folge und sang auch während unserer restlichen Flucht zurück in die Zivilisation nicht wieder. Ich nenne es »Flucht«, denn das war es, auch wenn sie sich als quälerisch langsam erwies. Wir flohen vor etwas – und wir brachten das, wovor wir flohen, mit uns.
    Am nächsten Morgen wachten wir unter einem ominösen grauen Himmel auf. Bis Mittag hatte leichter Schneefall eingesetzt, der den Pfad mit staubartigem Pulver überzog, das schnell rutschig wurde; mehr als einmal ging der Doktor fast mit seiner kostbaren Fracht zu Boden. Der Sergeant bot dann jedes Mal an, ihn abzulösen, und wurde jedes Mal von Warthrop schroff abgewiesen. Der Doktor schien eifersüchtig besorgt um seine Last.
    Es war kalt und still; kein Windhauch regte sich; und der Schnee, wie der Nebel, dämpfte den Schall. Wir marschierten durch überwölbte Gemächer aus Braun und Weiß, entlang verlassener Flure frei von Farbe, des Lebens beraubt. Die Nächte brachen mit niederschmetternder Plötzlichkeit herein. DasTageslicht schien weniger zu verblassen als vielmehr zu verschwinden. Dunkelheit war das wahre Antlitz der Einsamkeit, ihre natürliche Substanz.
    Mehr noch als die monotone Landschaft oder die Meilen holprigen Trampelpfads, die unter unseren Füßen dahinkrochen, lastete diese Dunkelheit auf uns. Sie ließ unsere Seelen bis zur Unempfindlichkeit erstarren, wie die Kälte unsere Fingerspitzen und Zehen erstarren ließ, eine pechschwarze, greifbare Dunkelheit, die unseren schwächlichen Versuchen, sie zu vertreiben,

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