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Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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sein ärgerliches Gebrumm lag in der dünnen Luft wie Gesprächsfetzen aus zersplitterter Erinnerung, jeglicher Bedeutung beraubt.
    Er wurde mürrisch und wortkarg, fuhr sich mit der Zunge obsessiv über die rauen Lippen, schlief immer nur wenige Minuten am Stück und fuhr dann knurrend aus dem Schlaf auf und warf mehr Holz ins Feuer oder fluchte, wenn keins mehr zum Hineinwerfen da war. Das Feuer konnte nie groß genug für ihn sein. Ich glaube, er hätte den gesamten Wald verbrannt, wenn er es gekonnt hätte. Dieser Mann, der sein ganzes Leben in diesen Wäldern verbracht hatte, schien jetzt gänzlich auf Kriegsfuß mit ihnen zu stehen, beargwöhnte und hasste sie mit der ganzen Wut eines betrogenen Geliebten. Was er liebte, liebte ihn nicht. Tatsächlich schien es darauf versessen, ihn zu töten.
    So abgelenkt der Doktor durch den Zustand seines Patienten auch war, der Zustand unseres Führers blieb doch nicht unbemerkt. Der Monstrumologe nahm mich beiseite und sagte: »Ich mache mir Sorgen um den Sergeant, Will Henry. Gott steh uns bei, wenn meine Sorgen wohlbegründet sind! Hier, nimm den; steck ihn in deine Tasche.« Er drückte mir den Revolver in die Hand.
    »Es kann den Verstand eines Mannes zerbrechen«, sagte er. Er definierte »es« nicht. Ich glaube, er hielt es nicht für notwendig. »Ich habe es gesehen.«
    Der Sergeant zerbrach am folgenden Tag. Wir hatten angehalten, um zu rasten, und kaum hatten wir unsere schmerzenden Körper vorsichtig niedergelegt, als er wieder auf den Beinen war und durchs Unterholz trampelte; ich konnte seinen Hut, auf dem der Tau schimmerte, zwischen den glänzenden schwarzen Baumstämmen hin und her huschen sehen.
    »Na schön, hol dich der Teufel, na schön!«, grölte er. »Ich hör dich da drüben! Du kannst genauso gut rauskommen, wo ich dich sehen kann!«
    Ich wollte aufstehen, doch der Doktor winkte mich wieder herunter. Er nahm sein Gewehr auf.
    »Ich werde dich erschießen! Willst du das?«, brüllte Hawk zu den leeren Bäumen hin. »Ich knall dich ab wie den elenden Hund, der du bist! Hörst du mich?«
    Ich zuckte reflexartig zusammen, als der Schuss überall im Wald widerhallte. Erneut schickte ich mich an aufzustehen, und der Doktor drückte mich sanft herunter.
    In diesem Moment fing Hawk wie am Spieß zu brüllen an und stürmte davon, stürzte Hals über Kopf durchs Unterholz und feuerte im Laufen aufs Geratewohl, wobei seine Schreie mehr dem schrillen Jaulen eines verwundeten Tiers als denen eines Menschen glichen.
    »Bleib bei Chanler, Will Henry!«
    Damit rannte der Monstrumologe ihm in den Wald hinterher. Ich rutschte dichter an John Chanler heran und umklammerte mit beiden Händen den Revolver, nicht sicher, wovor ich mehr Angst haben sollte – dem Ding, das uns möglicherweise folgte, oder unserem geistig verwirrten Führer.
    Bald verklangen das Knacken und Krachen der Verfolgung, das Knallen der Schüsse und die hysterischen Schreie. Die Ruhe des Urwalds kehrte wieder ein, eine unnatürliche Stille, die, sofern das überhaupt möglich war, noch zermürbender als jener Lärm war.
    Ich spürte, wie sich neben mir etwas bewegte. Ich hörte etwas stöhnen. Ich fühlte den Atem von etwas Scheußlichem. Dann blickte ich nach unten und sah dieses Etwas zu mir hochblicken.

ELF
    »Indem ich aufstieg, fiel ich«

    Die skelettartige Hand packte mich am Arm. Der wulstige Kopf hob sich ein paar Zoll vom Föhrennadelteppich, die Augen waren weit offen und schwammen in einer widerlichen gelben Suppe. Die Lippen, purpurn von frischem Blut, umrahmten den klaffenden Mund, dem der widerliche Gestank von Fäulnis und Verwesung entströmte, und John Chanler sprach zu mir in einem gutturalen Geschnatter, Worte, die ich nicht verstand. Er hielt meinen Arm mit einem schraubstockartigen Griff umklammert und zog mit überraschender Kraft daran. Ich glaube, ich schrie den Namen des Doktors; ich kann mich nicht genau daran erinnern. Ich sah die dicke, schaumbedeckte Zunge wütend gegen die Vorderzähne stoßen, und ich beobachtete, wie diese Zähne sich aus ihren Verankerungen lösten und geradewegs in die stygische Schwärze seines Schlundes fielen. Er würgte; sein Körper hob und senkte sich. Ohne nachzudenken ließ ich den Revolver in meinen Schoß fallen und rammte ihm meine Finger in den Mund, um die kaputten Zähne zu entfernen. Sofort klappte sein Mund zu, und er biss fest zu. Der Schmerz war wie eine Explosion. Ich bin sicher, dass ich in dem Moment geschrien habe, auch

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