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Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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eingehüllt in Winterweiß.
    Das graue Land war trügerisch still. Es bewahrte seine Geheimnisse.
    Etwas folgte uns.
    In jener Nacht sah ich die gelben Augen zum ersten Mal. Ich schrieb es meiner fiebrigen Einbildungskraft zu, die noch überhitzt war durch die früher am Tag belauschte Unterhaltung – ein Streich des Feuerscheins, dachte ich. Vielleicht die Reflexion der Flügel einer Motte oder irgendein glänzendes Stück Pilz. Die Bäume waren mit allen möglichen Sorten davon behängt. Kaum hatte ich sie bemerkt, waren sie auch schon wieder verschwunden. Einen Moment später kamen sie zurück, tief im Wald und diesmal weiter links, wo sie mehrere Fuß über dem Boden schwebten, mandelförmig, leuchtend wie zwei Signalfeuer.
    Ich packte Sergeant Hawk am Unterarm – der Doktor war schon ins Zelt gekrochen, um sich zu Chanler zu legen – und zeigte darauf. Bis er sich umgedreht hatte, um zu schauen, waren die Augen wieder verschwunden.
    »Was gibt’s, Will?«, flüsterte er.
    »Augen«, flüsterte ich zurück. »Dort drüben.«
    Wir warteten eine Ewigkeit, während der wir die Blicke durchs Dunkel schweifen ließen und kaum Atem holten, aber sie erschienen nicht wieder.
    Die Augen kehrten in der folgenden Nacht zurück. Warthrop sah sie als Erster; er stand schweigend auf und starrte mit einer beinah komischen Miene der Verwunderung in den Wald.
    »Habt ihr das gesehen?«, fragte er uns. »Vermutlich spielen mir meine Augen einen Streich, aber –«
    »Falls es Augen waren, was Sie gesehen haben, Will hier hat sie auch gesehen – letzte Nacht«, sagte Hawk. Er hing sich seine Büchse um, die er ständig bei sich trug, sogar im Schlaf.
    »Seht!«, sagte ich mit aufgeregter Stimme. »Da sind sie wieder – dort drüben!«
    Und waren bereits wieder verschwunden, bis Sergeant Hawk den Lauf herumgerissen hatte. Er behielt den Schaft an der Schulter und schwenkte die Waffe langsam hin und her.
    »Ein Bär?«, fragte sich der Doktor.
    »Ein Bär, könnte sein«, wisperte Hawk. »Wenn er auf den Hinterbeinen herumspaziert. Diese Augen waren beinah zehn Fuß über dem Erdboden, Doktor!«
    Die Sekunden zogen sich in die Länge, wurden zu Minuten. Ein eigenartiges, gurgelndes Geräusch setzte hinter uns ein, und der Sergeant wirbelte herum und wandte das Gesicht dem Zelt zu. Warthrop drückte den Gewehrlauf hinunter, blaffte: »Es ist Chanler!« und stürmte durch die Zeltklappe. »Will Henry!«, rief er. »Bring mir Licht!«
    Drinnen hatte sich der Doktor über seinen Patienten gebeugt, dieweil dessen Mund sich spasmodisch öffnete und schloss wie der eines gestrandeten Fisches und tief aus dem Rachen die gurgelnden Laute drangen. Warthrop rollte ihn auf die Seite und klopfte ihm leicht auf den Rücken. Der Körper krümmte sich, und aus dem offenen Mund brach grüngelbe Gallenflüssigkeit hervor, die Hemd und Hose des Doktors durchnässte und das Zelt mit einem schauerlichen, widerwärtigen Geruch erfüllte. Ich hielt mir die Nase zu und kämpfte gegen den Drang an, mich zu übergeben. Warthrop wischte Chanlers Mund mit seinem schmutzigen Taschentuch ab und blickte dann zu mir auf.
    »Etwas Wasser, Will Henry.«
    Chanler stöhnte, und Warthrop reagierte darauf, als hätte er sich aufgesetzt und seinen Namen gesagt. Das Gesicht des Doktors glühte förmlich vor Begeisterung.
    »Wacht er auf?«, fragte ich.
    »John!«, rief Warthrop. »John Chanler! Kannst du mich hören?«
    Wenn er es konnte, so gab er keine Antwort. Er erschlaffte. Wir warteten, aber er war wieder gegangen. Wo er auch gewesen war, er war dorthin zurückgekehrt.
    Danach sahen wir die gelben Augen mehrere Nächte lang nicht, aber ihre Abwesenheit trug wenig dazu bei, unser Unbehagen zu lindern. Besonders Hawk schien stark angeschlagen zu sein. Oft blieb er sogar hinter dem Doktor zurück, welcher weniger ging als vielmehr rutschte, mechanisch den Pfad entlangschlurfte, den die feuchten, toten Herbstblätter in eine glatte Bahn verwandelten. Immer wieder blieb Hawk stehen und drehte sich mit dem Gewehr im Anschlag um und starrte den borealen Tunnel hinunter, durch den wir marschierten, jeder Muskel angespannt, jeder Nerv und jede Sehne gestrafft, den Kopf schief gestellt, lauschend. Lauschend auf was, kann ich nicht sagen, denn weder der Doktor noch ich selbst hörten etwas außer unserem eigenen, stoßweise gehenden Atem und dem Scharr-scharr unserer Stiefel auf dem Boden. Wenn wir Rast machten, durchstreifte der Sergeant den Wald in alle Richtungen, und

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