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Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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einem kaum merklichen Beigeschmack von Tod, die greifbare Säure des Zerfalls. Der Geruch nach Verwesung, der Gestank von verfaulendem Dreck! , so hatte Hawk es genannt. Er durchflutete den Lagerplatz. Ich roch ihn von meinen Kleidern aufsteigen. Wir haben es weit darin gebracht, den Tod von unseren öffentlichen Plätzen zu verdrängen, ihm einen staubigen Winkel zuzuweisen, aber in der Wildnis ist er allgegenwärtig. Er ist der Liebende, der Leben schafft. Die sinnlichen, ineinander verschlungenen Glieder von Raubtier und Beute, der orgastische Todesschrei, der letzte spasmodische Blutandrang und sogar die lautlose Befruchtung der Erde durch den umgestürzten Baum und das zerfallende Blatt: Das sind die Liebkosungen des Liebhabers des Lebens, des unentbehrlichen Anderen.
    Die Abenddämmerung kroch über das Land, und noch immer gab es kein Zeichen des vermissten Sergeants. Warthrop, der John Chanler immer wieder Wasser und Nahrungsbrocken brachte, hatte schon einen Pfad zwischen dem Zelt und dem Feuer ausgetreten. Das Wasser brachte er in Chanler hinein, doch die Nahrungsaufnahme verweigerte dieser und ließ die Bissen mit einem würgenden Aufschrei des Abscheus aus seinem Mund fallen. Die Augen blieben offen, starr, erkenntnislos.
    Mit abnehmendem Licht nahm mein Unbehagen zu. Die Wahrscheinlichkeit, dass es eine harmlose Erklärung für die Abwesenheit des Sergeants gab, wurde mit jeder verstreichenden Stunde geringer. Falls er vorausgegangen war, um den Weg zu erkunden, oder sich in den Wald gewagt hatte, um uns dringend benötigtes tierisches Eiweiß zu besorgen, so wäre er inzwischen wieder hier gewesen. Sich die noch verbleibenden realistischen Erklärungen vor Augen zu halten war nicht erfreulich – insbesondere für einen zwölfjährigen Jungen, der bis zu dieser Reise noch nie weiter als zwanzig Meilen von der Schwelle seiner Haustür weg gewesen war. Für einen Moment lang vergessend, mit wem er verkehrte, wandte sich dieser Junge an die einzige Quelle des Trostes, die ihm zur Verfügung stand. Zu seinem Pech war dies zufällig Dr. Pellinore Warthrop.
    »Was, denken Sie, ist ihm zugestoßen?«, fragte ich.
    »Wie soll ich das beantworten, Will Henry?«, fragte er seinerseits und stopfte sich ein Stück Hickoryrinde in den Mund. Sie zu kauen half, den quälenden Schmerz in unseren Bäuchen zu unterdrücken. »Wir könnten Spekulationen anstellen, bis die Sonne aufgeht, und es würde nichts bringen. Am Morgen …« Er führte den Gedanken nicht zu Ende. Er streichelte liebevoll den polierten Schaft der Büchse, die quer über seinem Schoß lag, ein Versuch, einen anderen quälenden Schmerz zu lindern. »Ich nehme an, er hat etwas im Unterholz gehört – oder ge glaubt , etwas zu hören – und ist ihm wie ein Narr hinterhergestürzt. Vielleicht hat er sich gesagt ›zum Teufel‹ mit uns und sitzt jetzt gemütlich an seinem Kamin in Rat Portage. Obwohl ich das bezweifle.«
    »Warum?«
    »Er hat seinen Rucksack dagelassen. Und seine Feldflasche. Er hat vorgehabt wiederzukommen.«
    Es sei denn, er ging nicht aus freien Stücken. Diese Möglichkeit fasste der Doktor nicht in Worte. Er kaute nachdenklich auf dem Holz; in seinen Augen flackerte der Schein des Feuers.
    »Wir haben uns verirrt«, sagte er sachlich. »Das ist die einzige Erklärung. Du hast gesehen, wie er gestern auf die Anspielung reagiert hat. Also ist er beim ersten Licht aufgebrochen, um den Weg wiederzufinden. Die Dunkelheit hat ihn im Wald überrascht, und jetzt wartet er auf den Tagesanbruch, um uns holen zu kommen.«
    »Was ist, wenn er nicht kommt?«
    Der Doktor runzelte die Stirn. »Wieso sollte er nicht?«
    »Er hat Angst.« Ich erinnerte mich an den verstörten Ausdruck in seinen Augen, die Spucke, die ihm von den geschwollenen und aufgesprungenen Lippen flog. Den anderen Grundäußerte ich nicht – dass er nicht wiederkommen würde, weil er nicht konnte . Ich dachte an Pierre Larose, der auf einem Baum aufgespießt worden war.
    »Umso mehr Grund für ihn, den Weg zu uns zurückzufinden«, führte der Doktor an. Dann, als hätte er meine Gedanken gelesen, sagte er: »Ich würde unter diesen Umständen nicht die Einsamkeit wählen, und ich bin jemand, der sie unter fast jedem Umstand wählt!« Sein Mund bearbeitete unablässig die Schnitzel; seine Augen glänzten. »Geheimnisse«, murmelte er.
    »Geheimnisse, Sir?«
    »Der Grund, weshalb ich ein Monstrumologe wurde, Will Henry.« Er senkte die Stimme und sprach jetzt in warmem

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