Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo
Flüsterton, so intim wie der eines Liebenden. »Sie umgibt sich mit dem Mantel der Rätselhaftigkeit. Sie verbirgt ihr wahres Antlitz. Ich wollte ihr die Maske herunterreißen. Ich wollte sie entblößen. Ich wollte sie sehen, wie sie ist.«
Er hob das Gesicht dem verschleierten Firmament entgegen. Er betrachtete die Baumkronen, die sich vor dem hohen Wind verbeugten. »›Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt.‹ … Sie ist launenhaft und eifersüchtig und vollkommen gleichgültig – und deshalb vollkommen unwiderstehlich. Welche sterbliche Frau kann sie erreichen? Welche irdische Maid besitzt ihre ewige Jugend oder kann solche Verzückung auslösen – und Verzweiflung? Es ist etwas unergründlich Schreckliches an ihr, Will Henry, und äußerst Verführerisches. In meinem leidenschaftlichen Verlangen, sie zu beherrschen, wurde ich ihr Sklave. Indem ich aufstieg, fiel ich. Ich fiel … sehr tief.«
Obwohl ich drei Fuß vom Feuer entfernt saß, zitterte ich. Ich fragte mich, ob der Doktor, wie Sergeant Hawk, an einem »Buschfieber« erkrankt war. Wenn ja – wenn ich auch ihn verlöre –, was sollte dann aus mir werden?
Er blickte mich an, schüttelte den Kopf und lachte leise. »Ich habe dich gewarnt. Ich wollte Dichter werden.«
»War das ein Gedicht?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Es hat sich nicht wie irgendein Gedicht angehört, das ich jemals gelesen habe.«
»Du bist ein raffinierter Bursche, Will Henry. Das konnte ebenso gut ein Kompliment wie eine Beleidigung sein.«
Er nahm das knorrige Stück Holz aus dem Mund und warf es ins Feuer.
»Entsetzlich! Wie auf einem Stuhlbein herumzukauen. Aber das ist nun einmal das Einzige, was wir haben. Und wir müssen lernen, mit dem zufrieden zu sein, was wir haben, egal wie fade oder bitter es auch schmeckt.«
Einen Moment lang waren wir still. Das Feuer knisterte und knackte. Der Wind pfiff in den gebeugten Köpfen der Fichten und Kiefern. Hinter uns lieferte John Chanlers Stöhnen eine leise zweite Stimme dazu.
»Hat er genauso empfunden wie Sie, Doktor?«, fragte ich. »Für … sie?«
»John hat mehr das Gemüt eines Boxers als das eines Poeten. Er ist nie ganz erwachsen geworden, meiner Meinung nach. Monstrumologie ist für ihn ein Sport, wie die Fuchsjagd oder das Kricketspiel.«
»Er dachte, es würde Spaß machen?« Die Vorstellung, dass jemand die Tätigkeit des Doktors angenehm finden konnte, war bizarr.
»Oh, er dachte, es würde jede Menge Spaß machen.«
»Welcher Teil?«
»Für gewöhnlich der Teil, der ihn am nächsten an den Rand des Abgrunds brachte.« Er lachte trübsinnig. »Diesmal ist er diesem Rand ein bisschen zu nah gekommen.«
»Mr. Larose ist geradewegs drübergegangen«, sagte ich. Ich konnte das Bild seiner hautlosen Leiche nicht aus meinem Kopf vertreiben.
»Eine interessante Erweiterung der Metapher, Will Henry. Vielleicht hat diese Angelegenheit mehr mit Monstrumologie zu tun, als wir anfangs annahmen.«
Ich war schockiert. »Sie meinen, Sie haben es sich anders überlegt? Sie glauben, es könnte …«
»Real sein? Oh nein! Nicht in dem Sinn, den du meinst. Vielleicht gibt es einen Organismus, der in dieser Umgebung heimisch ist – etwas ganz und gar Natürliches – und den Mythos aufkommen ließ. Ein zweibeiniges Raubtier mit einigen Zügen des Wendigo – kannibalistisch, humanoid, mit der Fähigkeit, diese Bäume zu erklettern und gewaltige Entfernungen schnell zu überbrücken. John war nicht der erste Monstrumologe, der hierherkam auf der Suche nach der Inspiration für die Legende. Einige Hinweise darauf habe ich sogar in den Unterlagen meines Vaters gefunden – daher kannte die Mutter des Sergeants vermutlich den Namen.«
»Dann könnte es also … es könnte also etwas geben …«
»Ach, Will Henry, du warst lange genug bei mir, um zu wissen, dass es immer etwas gibt.«
ZWÖLF
»Das einzige Nützliche, was du noch tun könntest«
Er hatte von ihr geredet wie jemand, der von einer Geliebten spricht. Die ewig junge, fruchtbare Braut; die alte, vertrocknete Jungfer; die Sirene; die Sibylle – sie war all dies, alles zugleich, seine Geliebte, die eine, für die er der Gesellschaft bloßer sterblicher Menschen entsagte, gegen die sogar die atemberaubende Muriel Chanler verblasste. In jener Nacht rief seine Geliebte, doch rief sie nicht ihn.
Ihre Stimme – die Stimme der ungezähmten Wildnis, die geheime Stimme, die auf dem hohen Wind reitet, die Stimme
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