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Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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überquellender Einsamkeit und beschwingender Verzweiflung, die Stimme, der die Iyiniwok den Namen Outiko gegeben hatten – rief in jener Nacht, und John Chanler antwortete.
    Ich spürte seine Gegenwart, bevor ich ihn sah. Meine Nackenhaare richteten sich auf. Ich hatte das ausgeprägt ungute Gefühl, beobachtet zu werden. Ich sah über meine Schulter. Der Atem blieb mir im Halse stecken. Ich berührte den Doktor am Arm, und er folgte meinem Blick, und einen Moment lang ließ uns der Anblick in äußerster Verwunderung erstarren.
    John Chanler stand am Zelteingang, die spindeldürren nackten Beine weit gespreizt, die knochigen Arme schlaff an den Seiten; die gelben Augen, die sein skelettartiges Gesicht beherrschten, schienen mit ihrem eigenen inneren Feuer zu brennen, und jene Augen bargen den Schock der Erkenntnis – nicht für ihn, sondern für mich, denn ich hatte ein Paar genau wie sie gesehen, schwebend in der Düsterkeit des Waldes.
    Sein Mund stand offen, die Lippen waren geschwollen und glänzten vor Blut, aufgerissen von seinen unablässig knirschenden Zähnen. Die Vorderseite seines Hemds war nass davon. Es hing in tränenförmigen Tropfen in seinem Bart.
    Mit einem erschreckten Aufschrei sprang Warthrop auf. Das Gewehr fiel vergessen auf den Boden. Er machte einen kleinen, zögernden Schritt auf seinen Freund zu.
    »John?«
    Chanler gab keine Antwort. Er rührte sich nicht. Er schien etwas hoch oben in den Bäumen zu betrachten. Sein Kopf, der im Vergleich zu seiner ausgemergelten Gestalt so unverhältnismäßig groß war, war schief gelegt, als horche er auf etwas – oder würde etwas zuhören . Aus seiner Kehle drang ein ungesundes Glucksen, wie von einer stinkenden Quelle, die aus den widerlichen Tiefen emporsprudelte.
    Dann ergriff dieses bedauernswerte Wesen, das sich tagelang notdürftig ans Leben geklammert hatte, das so schwach war, dass mein Herr gezwungen gewesen war, es wie ein Neugeborenes zu tragen, das zwei Wochen lang nichts gegessen hatte, jäh die Flucht, stürzte mit erstaunlicher Geschwindigkeit an uns vorbei, ein auf groteske Weise komischer Wirbel rudernder Arme und schwirrender Beine, sprang drei Fuß hoch über das Feuer und krachte mit einem bestialischen Kreischen ins Unterholz. Der Doktor raste ihm hinterher und rief hektisch über die Schulter: »Will Henry !« Ich raffte das Gewehr auf und folgte ihm mit ein paar Schritt Abstand.
    Warthrop erwischte seine wahnsinnig gewordene Beute am Hemdkragen, musste jedoch sofort wieder loslassen, denn Chanler drehte sich um und schlug die Hand des Doktors fort. Der Monstrumologe schlang die Arme um die schmale Taille und zog ihn an seine Brust. Chanler reagierte darauf, indem er den Kopf von einer Seite auf die andere schnellen ließ und mit den zerbrochenen Zähnen vergeblich nach ihm schnappte, während er mit den Beinen auf der Suche nach einem festen Halt auf der rutschigen Decke des vermodernden Laubs umsich trat. Er packte Warthrops Unterarm und zog ihn an seinen Mund.
    Der Doktor schrie auf und taumelte nach hinten. Chanler lief wieder fort, und Warthrop warf sich in seine Kniekehlen. Die beiden Männer fielen zu Boden, der Monstrumologe riss die Hände hoch, um die wütenden Schläge seines Freundes abzuwehren, dessen Ziel es jetzt anscheinend war, meinem Herrn die Augen auszustechen. Seine langen, gekrümmten Finger griffen nach Warthrops Gesicht. Ich stürmte an die Seite des Doktors und brachte den schweren Gewehrkolben über Chanlers ungeschützter Kopfhaut in Position.
    »Nicht, Will Henry!«, rief Warthrop. Es gelang ihm, Chanlers Handgelenke zu packen und sich, indem er mit den Beinen gegen ihn drückte, einen Vorteil über seinen fliegengewichtigen Widersacher zu verschaffen. Warthrop zwang Chanler auf den Rücken und warf sich mit dem Körper auf die sich windende Gestalt seines Freundes.
    »Ich bin’s, John!«, keuchte der Monstrumologe. »Pellinore. Ich bin’s. Pellinore. Pellinore!«
    » Nein! «, ächzte Chanler zurück. Seine dicke Zunge bemühte sich, die Worte zu bilden. »Muss gehen … Muss … antworten .«
    Der geplagte Mann starrte in den Himmel, wo die Baumwipfel die Bäuche der würdevoll vorrückenden Wolken streiften. Der hohe Wind heulte.
    Und als Antwort darauf weinte John Chanler. Seine Tränen waren gelb mit roten Streifen. Er rollte sich zu einem kläglichen Ball zusammen und wehklagte, während seine knorrigen Finger verdrossen im Gestrüpp scharrten.
    Der Doktor setzte sich auf die Absätze und

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