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Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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hob mir das verschmierte Gesicht entgegen. »Nun, immerhin hat er einen Teil seiner Kräfte wiedergewonnen.«
    In den Armen des Doktors wurde er schlaff wie eine Stoffpuppe und gab nicht einmal ein protestierendes Stöhnen von sich, als mein Herr ihn zurück zum Zelt trug. Warthrop ließ ihn behutsam zu Boden, legte die Decke über ihn und wusch ihm mit einem Taschentuch, das er mit Trinkwasser angefeuchtet hatte, das Gesicht. Angesichts der extremen Verfassung Chanlers war dies eine klägliche Geste, die seinem Leiden keine Linderung verschaffte, aber sie war auch nicht für den Patienten gedacht. Seinem Freund den Schmutz vom Gesicht zu waschen, dem letzten Überbleibsel, so schien es, des verlorenen Menschseins des Mannes, brachte dem Monstrumologen ein gewisses kleines Maß an Trost.
    Ich hielt die Lampe, während er mit dem Saum des Tuchs sanft um die eiternden Lippen rieb und dann innehielt, um den halb geöffneten Mund zu untersuchen. Er drückte mir das blutbefleckte Taschentuch in die freie Hand und schob Chanler die Finger in den Mund. Ich versteifte mich, weil ich damit rechnete, die Kiefer zuschnappen zu sehen, wie sie es getan hatten, als ich meine Finger hineingesteckt hatte. Warthrop zog einen großen Pfropfen halb zerkauten Laubs an den sabbernden Lippen vorbei ins Freie – Wolfsfuß, den Chanler sich in den Mund gestopft haben musste, als er auf dem Waldboden gelegen hatte. Das kleine Zelt füllte sich mit dem lehmigen Aroma und dem Geruch von Chanlers fauligem Speichel. Der Monstrumologe murmelte das Wort »Moosmund«, und mir fiel der Brief von Pierre Larose wieder ein. Der Moosmund wird ihn nicht gehen lassen.
    »Das Feuer, Will Henry«, sagte der Doktor müde. »Wir dürfen es nicht ausgehen lassen.«
    Ich stellte die Lampe ab und eilte nach draußen, erleichtert, diesem beengenden Raum zu entkommen. Die hungrige Glut fiel über das frische Holz her; die Flammen reckten die flehenden Hände zum Himmel empor. Alles war Hunger, dachte ich. Alles war Sehnen. Nach einem Moment ließ sich der Doktor neben mich fallen und schlang die Arme um die angezogenen Knie.
    »Ist er –?«
    Warthrop nickte. »Eingeschlafen – oder bewusstlos. Er muss erschöpft sein. Ich glaube nicht, dass er noch einmal aufstehen wird.«
    »Aber weshalb hat er –«
    »Delirium, Will Henry. Eindeutig.«
    Zerstreut zupfte er die Blätter des Wolfsfußes ab, die an seiner Handfläche kleben geblieben waren, und schnippte sie ins Feuer, wo sie einen Moment lang Funken sprühten und dann erloschen. Erst so hell wie die Sterne, dann plötzlich tot.
    »Nach Sonnenaufgang werden wir noch eine Stunde warten«, sagte er. »Dann werden wir weiterziehen. Wenn wir dazu verurteilt sind, hier zugrunde zu gehen, würde ich lieber auf der Suche nach dem Heimweg sterben, als vor Furcht gelähmt wie die Kaninchen hier zu sitzen.«
    »Ja, Sir.«
    Über dem tröstlichen Prasseln unseres Feuers pfiff der Wind mit melancholischem Seufzen ein Klagelied.
    Der Doktor hob das Gesicht und sagte: »Ein Sturm zieht auf.«
    Er erreichte uns kurz vor Morgengrauen. Der Wind stürzte sich hinab und trieb den ersten schweren Schneefall der Saison vor sich her. Bis acht Uhr, als wir das Lager abbauten, lagen zwei Zoll frischen Pulverschnees auf der Erde. Es ging den ganzen Tag hindurch weiter, und wir mieden die Lichtungen, denn unser Schutz lag unter den Ästen des Waldes. Auf den freien Flächen ballte der Schnee sich zu blendenden, wirbelnden weißen Mahlströmen, in denen wir nicht wirklicher waren als Geister. Bis zwei Uhr war mehr als ein Fuß gefallen, und es gab keine Anzeichen für ein Nachlassen. Wir stolperten über verschüttete Wurzeln und stießen in der Dunkelheit zusammen, während wir durch einen weglosen Irrgarten stapften. Zu durchgefroren und zu abgestumpft, um zu reden, senkten wir die Köpfe zum Schutz vor dem eisigen Wind und machten nur halt, um uns zu erleichtern und unsere Feldflaschen mit Schnee zu füllen. Ich trug jetzt beide Rucksäcke und Hawks Gewehr. Wir hatten uns schon lange unseres Proviantsacks entledigt.
    Gemeinsam mit dem Tag verfinsterte sich mein Gemüt. Bisvier hatte der Sturm das Licht praktisch ermordet, aber der Doktor drängte weiter und sagte: »Noch ein bisschen, noch ein bisschen.«
    Als fast kein Licht mehr da war, stießen wir urplötzlich auf irgendeine halbverdeckte Fährte, die unseren Weg kreuzte – menschliche Fußabdrücke –, und augenblicklich schwand meine Müdigkeit dahin und wich unaussprechlicher

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