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Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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weiter unten wirkte er sehr klein, nicht größer als ich. Er sah aus wie ein Kind, das zum Spaß auf einen Baum geklettert und nahe dem Wipfel stecken geblieben war, nicht imstande, höher zu klettern, und zu ängstlich, um den Rückweg anzutreten.
    Ich konnte die glänzenden Messingknöpfe seines offenen Mantels sehen, sein zerfetztes Hemd, das im hohen Wind flatterte, und das seilartige Gewirr seiner gefrorenen Gedärme, die im Sonnenlicht glitzerten. Während ich zusah, drehte ein Truthahngeier den tonsurierten Kopf zum Gesicht des Mannes hin, wobei er ihn in jener seltsam unanständigen Gebärde der Aasfresser schrägstellte, und riss ihm die Zunge aus dem offenen Mund.
    Wir hatten unseren verloren gegangenen Führer gefunden.
    »Schaffst du es, Will Henry?«, fragte der Doktor.
    »Ich denke schon, Sir.«
    »Nein. Nicht ›denke schon‹. Schaffst du es? «
    Ich täuschte Zuversicht vor und nickte. »Ja, Sir.«
    »Guter Junge!«
    Ich hängte mir die Seilrolle über die Schulter und begann den beschwerlichen Aufstieg. Die Rinde der Kiefer war rutschig, die Äste zum Boden hin zwar dick, jedoch verjüngten sie sich auf dem Weg nach oben.
    »Sieh zu, dass du seitlich neben ihn kommst, Will Henry, nicht unter ihn. Er ist bestimmt steif gefroren, es wird also nicht einfach werden … Obacht da! Pass auf, was du machst, Junge! Der Zweig dort ist gebrochen – ich kann es von hier aus sehen! Vorsichtig, Will Henry, vorsichtig!«
    Der Wind zerrte an meinen Schultern; er schnitt mir in die Wangen; er pfiff mir in den Ohren. Ich behielt die Augen auf meiner Beute; ich sah nicht nach unten. Als ich mit dem Kopf auf einer Höhe mit der Unterseite seiner Stiefel war, legte ich eine Pause ein, mit schmerzenden Armen und Füßen, die zu taub waren, um den schlanken Ast unter ihnen noch zu spüren.
    »Höher, Will Henry!«, rief der Monstrumologe nach oben. »Und auf die Seite ! Von da aus wird er genau auf dich herunterfallen!«
    Ich nickte, obwohl ich bezweifelte, dass er mein Einverständnis sehen konnte. Drei Fuß weiter, und ich war auf einer Höhe mit dem Rumpf. Seine ganze Brusthöhle war geöffnet worden. Eiskristalle glitzerten wie Edelsteine, mit denen seine Rippen behängt worden waren, und kleideten die Wände seines aufgerissenen Magens aus; seine Lungenflügel sahen wie zwei enorme, facettenreiche Brillanten aus; seine gefrorenen Eingeweide glänzten so hell wie nasser Marmor. Es war schrecklich. Und es war schön.
    Ich kletterte höher. Als sein ausgestreckter Arm meinen Kopf streifte, blickte ich hoch in das Gesicht von Jonathan Hawk – oder was davon noch übrig war. Wie sehr ist doch unser Gesichtsausdruck von unseren Augen abhängig! Kann man ohne sie Angst von Verwunderung unterscheiden, Freude von Leid? Seine Nase war abgerissen worden – wie seine Zunge, die beide in den Mägen der Vögel verdaut wurden, welche in den wolkenlosen Himmel zurückgekehrt waren, ohne ob meines Eindringens auch nur ein protestierendes Krächzen von sich gegeben zu haben. Sie waren geduldig; das Fleisch würde nirgendwo hingehen, oder wenn doch, so würde es irgendwo anders welches geben. Es gab immer Fleisch.
    »Nein, nein, nein!« Die Stimme des Doktors schwebte zu mir empor, schwach und kümmerlich in der dünnen Luft, wo sie mit dem pfeifenden Wind wetteiferte. »Nicht um seine Taille, Will Henry! Wirf die Schlinge um seinen Hals!«
    Während ich mich mit einer Hand an einen Ast klammerte, der sich gefährlich weit nach unten neigte, griff ich mit dem Seil nach oben und ließ die hastig gemachte Schlinge über Sergeant Hawks Kopf herab.
    Der Buteo hatte nicht seine ganze Zunge erwischt. Ein Stück von der Größe meines kleinen Fingers hing über die Unterlippe und war noch mit der Wurzel verbunden. Diese zerfetzte Zunge war es, die die Worte » J’ai fait une maîtresse y a pas longtemps« gesungen hatte. Diese gefrorenen Lungen waren es, die den Worten Atem verliehen hatten. Dieses eisige Herz war es, das ihnen Bedeutung verliehen hatte.
    »Will Henry, was zum Teufel treibst du da oben? Komm sofort runter! Mach fix, Will Henry. Mach fix !«
    Ich warf ihm das Seil hinunter. Anstrengend langsam ging mein Abstieg zur Erde vonstatten. Der des Sergeants war viel schneller – ein heftiger Ruck am Seil, und der Leichnam fiel, starr wie eine Statue, und landete mit dem Gesicht nach oben und einem dumpfen Wumm! im Schnee. Der Doktor sank neben dem gefallenen Mann auf die Knie. Er wollte die Leiche untersuchen, bevor das Licht

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