Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
Vom Netzwerk:
auf ihren eigenen kleinen Beinen in den Wald aufgemacht!«
    »Sie sind es doch, der beschlossen hat, das Lager in diesem Hundewetter abzubrechen!«, brüllte ich zurück. »Wir hätten bleiben sollen, wo wir waren! Jetzt haben wir uns verirrt und werden erfrieren!«
    Mit zwei großen Schritten war er über mir. Er holte mit der Hand aus. Ich spannte mich an, um den Schlag zu empfangen. Ich floh nicht. Ich duckte mich nicht. Ich erstarrte und wartete darauf, dass er mich schlug.
    Die Hand fiel an seine Seite.
    »Du widerst mich an«, sagte er. Er machte auf dem Absatz kehrt und schritt zu dem erbärmlichen Haufen Brennholz. Mit einem heftigen Tritt ließ er es durch die Luft fliegen.
    »Du widerst mich an«, wiederholte er. »Nur der Intelligente kann es sich leisten, so wertend zu sein. Wer bist du, dass du meine Entscheidungen infrage stellst? Du begriffsstutziges, speichelleckerisches Stück Rotz! Ich habe Würmer seziert, die größere Hirne hatten als du! Du bist mir nichts als eine Last gewesen, ein Mühlstein um meinen Hals … Gott verfluche deine Eltern dafür, dass sie gestorben sind und mir deinen verabscheuungswürdigen Kadaver aufgehalst haben! ›Ist schon in Ordnung, Sir. Ich mache jetzt das Feuer, Sir.‹ Du machst mich krank. Alles an dir ist abstoßend, du ekelerregender, wertloser, heuchlerischer Schwachkopf!«
    Er war jetzt nur noch ein hellerer Schatten unter dunkleren, ein wahnsinnig gewordenes Gespenst.
    »Das Einzige, wozu du noch zu gebrauchen bist … Das einzige Nützliche, was du noch tun könntest, ist sterben . Von deiner elenden Haut könnten wir eine Woche lang leben, nicht wahr, John? Das würde dir gefallen, stimmt’s, Chanler? Schmackhafter als Moos. Das ist es, wonach du dich wirklich sehnst, oder? Der Outiko hat dich gerufen. Der Outiko hat dich jetzt. Ist es nicht so? Will Henry, sei ein Schatz und gib ihm einen anderen Geschmack!«
    Er fiel nieder. Gerade stand er noch und schimpfte so laut wie der Wind, der sein langes, ungekämmtes Haar peitschte. Dann lag er auf Knien im Schnee. Mit ihm senkte sich auch seine Stimme.
    »Mach jetzt fix, Will Henry. Mach fix.«
    Das tat ich – mit dem Zelt. Ich rammte die Pflöcke ein, band die Schnüre los, warf die verwitterte Zeltleinwand über die Stangen. Dann schleifte ich Chanler ins Innere, während der Monstrumologe sich in seiner eigenen Malaise erging, auf dem Fleck, wo er zusammengebrochen war. Die Arbeit ging langsam voran in der Dunkelheit – und diese Dunkelheit war vollkommen –, langsam mit gefühllosen Händen und eiskalten Füßen. Chanler war so still, dass ich meine Hand unter seine Nase hielt, um mich zu vergewissern, dass er atmete. Ich blieb eine Zeit lang bei ihm im Zelt, unkontrolliert zitternd, an seine dreckige und stinkende Decke geschmiegt, und atmete mit flachen Zügen die übelriechende Atmosphäre eines sterbenden Menschen ein. Ich muss eingenickt ein, denn das Nächste, an das ich mich erinnere, war, dass Warthrop neben mir saß. Ich hielt die Augen geschlossen und stellte mich schlafend. Ich hatte keine Angst vor ihm. Ich war zu hungrig, mir war zu kalt, ich war zu leer, um irgendetwas zu empfinden. Angst und Schrecken waren einer seelenbetäubenden Mattigkeit gewichen. Ich empfand nichts – gar nichts.
    Sanft zog er meine Hände in seine. Seine warmen Lippen berührten meine Fingerknöchel. Er pustete auf mein totes Fleisch. Er rieb meine nackte Hand kräftig zwischen seinen. Das Gefühl begann zurückzukehren und mit ihm ein gewisses Maß an Schmerz, der Beweis des Lebens. Er verschränkte mir die Hände über der Brust, drückte seinen Körper an meinen und schlang seine langen Arme um mich. Ich spürte die köstliche Wärme seines Atems an meinem Hals.
    Er benutzt dich bloß , sagte ich mir. Er benutzt dich bloß, um nicht zu erfrieren.
    Meine Eltern waren bei einem Feuer ums Leben gekommen. Sie waren bei lebendigem Leib verbrannt. Jetzt würde ich erfrieren. Sie durch Feuer, ich durch Eis. In den Armen des Mannes, der für beides verantwortlich war. Eines Mannes, dem ich nichts als eine Last war.
    Du bist jung, hatte er zu mir gesagt. Du musst erst noch hören, wie es deinen Namen ruft.
    Ich glaube jetzt, dass er sich geirrt hatte. Ich glaube, es hatte meinen Namen schon gerufen.
    Und jetzt lag es da und hatte mich in die Arme geschlossen.

DREIZEHN
    »Die wirkliche Gefahr«

    Wir erwachten in einer blendend weißen Welt. Die Wolken, die ungezählte Tage über uns gehangen hatten, wurden vom

Weitere Kostenlose Bücher