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Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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anhaltenden Wind weggerissen, und die Morgendämmerung traf auf den Flügeln eines saphirblauen Himmels ein. Unsere wenigen unruhigen Stunden der Nachtruhe hatten kaum dazu beigetragen, unsere Erschöpfung zu lindern; wir schwankten aus dem Zelt und sahen uns diese neue Welt mit abgestumpften Mienen an, wie Vogelscheuchen, die das gewaltige herbstliche Firmament betrachten.
    Warthrop deutete von sich fort nach links. »Weißt du, was das da ist, Will Henry?«, fragte er mit rauer Stimme.
    Ich blinzelte die Linie seines Fingers entlang. »Was?«
    »Wenn ich mich nicht sehr irre, ist es das, was die Menschen die Sonne nennen. Welche im Osten aufgeht, Will Henry, was bedeutet, dass diese Richtung Westen ist, diese Norden und diese Süden!«
    Er klatschte in die Hände. Das Geräusch war sehr laut in der heiligen Stille des Waldes.
    »Auf geht’s! Es ist zwar viel kälter, aber auch viel heller, nicht wahr? Wir werden jetzt gut vorankommen, und kein Im-Kreis-Herumlaufen heute! Mach fix und lass uns zusammenpacken, Will Henry.« Er bemerkte, wie ich ihn anstarrte. »Was gibt’s? Was ist los? Siehst du es denn nicht? Wir werden es schaffen!«
    »Wir haben uns immer noch verirrt«, legte ich dar.
    »Nein, haben wir nicht«, beteuerte er. »Wir haben uns bloß deplaciert .« Er zwang sich zu lachen – eine lächerliche Parodie eines Lachens. »Ich sehe dich gar nicht lächeln. Es geschieht so selten, dass ich mich an witzigen Bemerkungen versuche, Will Henry – Lächeln könnte mich dazu ermutigen.«
    »Ich will Sie nicht dazu ermutigen«, erwiderte ich. Ich kniete nieder, um einen Pflock aus dem Boden zu ziehen.
    »Verstehe. Es nagt immer noch an dir wegen gestern Abend. Du weißt, dass ich diese Sachen, die ich gesagt habe, nicht wirklich meine. Ich habe dir deine Brauchbarkeit stets bescheinigt, Will Henry. Du bist mir immer unentbehrlich gewesen.«
    »Dafür lebe ich, Sir.«
    »Jetzt bist du aber witzig.«
    Ich schüttelte den Kopf. Ich war ehrlich.
    Es war nicht der sorglose Spaziergang, den sich der Monstrumologe vorgestellt hatte. Stellenweise häufte sich der Schnee fünf Fuß hoch auf, Verwehungen so hoch wie mein Kopf, in die ich jedes Mal bis zur Hüfte einsank, und dann war ich gezwungen, hilflos zu warten, bis der Doktor Chanler abgelegt hatte und mich herauszog. Gegen Mittag hielten wir an, schaufelten uns Hände voll Schnee in die ausgetrockneten Münder, und ich ertrug zwanzig Minuten von Warthrops Gejammer über Schneeschuhe und seine laut angestellten Überlegungen, mit denen keine Taten einhergingen, ob wir uns vielleicht welche aus Stöcken machen könnten. Der Sonnenschein milderte die Kälte kaum; der tiefe Schnee machte jeden Schritt eher zu einer Sache der Willens- als der Körperkraft. Wir waren in die richtige Richtung unterwegs, hätten aber trotzdem noch x Meilen von der Zivilisation entfernt sein können. Ich hörte auf, mich darum zu kümmern. Bis Mitte des Nachmittags hatte mich eine enorme Lethargie übermannt. Ich wollte mich nur noch zusammenrollen und einschlafen. Ich hörte sogar auf zu frieren. Tatsächlich begann ich unter meinen Kleiderschichten zu schwitzen.
    Ich zog gerade in Betracht, meinen schweren Wollmantelauszuziehen, als Warthrop mir zurief: »Schau, da drüben, Will Henry!«
    Einige schwarze Pünktchen schwebten hoch über den Baumkronen, majestätisch im Aufwind kreisend. Buteos , hatte Sergeant Hawk sie genannt.
    »Mach fix jetzt!«, sagte der Doktor, indem er geradewegs auf sie zusteuerte. »Wo es Aasfresser gibt, gibt es auch Aas, Will Henry, oder Aas in spe! Wenn wir uns beeilen, werden wir heute Abend vielleicht wie die Könige speisen!«
    Und wir beeilten uns, bahnten uns den Weg durch den widerspenstigen Schnee, während unsere protestierenden Muskeln gegen Kriechpflanzen und Gestrüpp ankämpften, die unter der Schneedecke begraben lagen. Wir waren außer Atem und dem Ende allen Durchhaltevermögens nahe, als wir die Stelle erreichten, über der die Aasfresser patrouillierten – eine hochragende Weymouthskiefer, auf deren oberen Ästen mehrere ihrer Kollegen hockten, so gelassen wie Kirchendiakone, die sich um ihre Nachmittagsmahlzeit versammelt haben.
    Ihre Mahlzeit hatte sich in den höchsten Ästen verfangen. Er hatte die Arme ausgebreitet und die Beine zusammengelegt, wie Christus am Kreuz, und sein Kopf lag auf der einen Schulter, von wo aus die leeren Augenhöhlen zu einem nicht wahrnehmbaren Horizont hinblickten. Von unserem Aussichtspunkt vierzig Fuß

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