Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
Vom Netzwerk:
mir auf die Lippen. Kein lebendiger Mensch hätte sich so herumgedreht. Nur ein Wahnsinniger hätte sich auf eine solche Weise vierzig Fuß über den Erdboden gehängt. Und diese Beobachtung schien mir durchaus relevant zu sein.
    Das war die Nacht, in der es wegen uns kam, denn wir hatten es beleidigt. Wir hatten genommen, was es für sich gefordert hatte.
    Es kam wegen uns, das Eine, das vor den Worten gekommen war, das Namenlose Eine, dem zahllose Namen gegeben worden waren.
    Der Monstrumologe war der Erste, der es hörte. Er stupste mich wach und drückte eine Hand auf meinen Mund. »Da draußen ist etwas«, flüsterte er, wobei seine Lippen mein Ohr berührten.
    Er ließ mich los und rutschte auf die Zeltklappe zu. Ich sah, wie er sich einen Fuß von mir entfernt niederkauerte, und ich sah den Umriss der Büchse in seiner Hand. Zuerst hörte ich nichts, nur das lang gezogene Klagen des Windes hoch oben in den Bäumen. Dann hörte ich es, das deutliche Geräusch von etwas Großem, das sich knirschend durch die überfrorene Schneedecke bewegte.
    Es könnte ein Bär sein , dachte ich. Oder sogar ein Elch. Es klang viel zu groß für einen Menschen. Ich beugte mich nachvorn und versuchte, den Ursprung des Geräuschs zu lokalisieren. Anfangs schien es nah, vielleicht nicht weiter weg als ein paar Fuß vor uns, und dann dachte ich: Nein, es ist weit weg in den Bäumen hinter uns.
    Der Monstrumologe bedeutete mir, näher zu kommen. »Es scheint, dass unser gelbäugiger Freund zurückgekehrt ist, Will Henry«, flüsterte er. »Bleib hier bei John!«
    »Sie wollen da raus?« Ich war entsetzt.
    Er war fort, bevor die Frage heraus war. Ich rutschte auf die Stelle, die er frei gemacht hatte, und beobachtete, wie er sich langsam und vorsichtig auf die Bäume zubewegte, wobei die Konturen seiner Gestalt sich ausgesprochen deutlich gegen den unberührten, eingeschneiten Hintergrund abhoben. Jetzt kam das einzige Geräusch von den Stiefeln des Doktors, die durch die dünne obere Schneekruste brachen. Von diesen und von den erregten Atemzügen John Chanlers hinter mir, der keuchte wie ein Mann nach einem langen Marsch bergauf. Ich blinzelte in das silbrige Licht und suchte den Wald nach den gelben Augen ab. So vollkommen war meine Konzentration, so aufs Äußerste war ich auf die Aufgabe fokussiert, dass ich mir nichts dabei dachte, als Chanler in seinem Delirium denselben Unsinn zu murmeln begann, den er schon seit Tagen vor sich hin geleiert hatte. » Gudsnuth nesht! Gebgung grojpech!« Mein Herzschlag beschleunigte sich, denn der Doktor hatte sich ganz aus meinem Gesichtsfeld entfernt und mich lediglich mit dem Geräusch von Chanlers gurgelndem Gefasel als Gesellschaft zurückgelassen. Wenn er doch nur ruhig wäre, dann hätte ich den Doktor vielleicht wenigstens hören können! Ich warf einen Blick hinter mich.
    Er saß aufrecht da, die obere Hälfte der alten Decke auf dem Schoß. Sein graues Fleisch, seidig vor Schweiß, glänzte im Halbdunkel. Die Augen waren geöffnet – grotesk übergroß in seinem ausgezehrten Gesicht, und leuchtend gelb, die Pupillen klein wie Nadelstiche –, und aus ihnen tröpfelten ockerfarbene Tränen von der Konsistenz geronnener Milch.
    Mein erster Instinkt, der seinen Ursprung in unserer jüngsten Vergangenheit hatte – dem Ergebnis des letzten Males, als unsere Blicke sich getroffen hatten –, war Reißaus zu nehmen, so viel Abstand wie möglich zwischen uns zu bringen, gewiss eine Reaktion, die angesichts der Umstände nicht die Billigung des Doktors gefunden hätte. Worauf ich möglicherweise zu gelaufen wäre, hätte sich als viel schlimmer erweisen können als das, wovor ich weg lief.
    Er keuchte; ich konnte die Spitze seiner grauen Zunge sehen. Speichel lief über seine entzündete Unterlippe und tropfte in die schütteren Barthaare an seinem Kinn. Durch einen Streich des unwirklichen Lichts erschienen seine Zähne außergewöhnlich groß.
    Ruhig Blut, ruhig Blut, ruhig Blut! , sagte ich mir. Er ist kein Monster. Er ist ein Mann. Er ist der Freund des Doktors.
    Ich schenkte ihm ein, wie ich hoffte, beruhigendes Lächeln.
    Seine Reaktion erfolgte augenblicklich. Mit einem jähen Sprung – zu schnell, als dass das Auge ihm folgen konnte – schoss er wie eine Rakete in mich, wobei seine knochige Schulter mir mit der Wucht eines Rammbocks ans Kinn krachte. Ich fiel nach hinten und sah schwarze Sterne vor meinen Augen erblühen. Eine Hand legte sich wie eine Zwinge über meine Nase und

Weitere Kostenlose Bücher