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Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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bitteren Wolfsfuß und den beißenden Geschmack der Schuppenwurz dachte. Man hätte auf den Gedanken kommen können, meine noch frische Vertrautheit mit dem Hungern hätte mich diesen Überfluss umso mehr schätzen lassen, aber sie rief den gegenteiligen Effekt hervor. Die protzige Zurschaustellung entsetzte und beleidigte mich. Sie machte mich wütend. Als ich mich in dem üppig ausgestatteten Ballsaal umblickte – den gewaltigen Kristalllüster aus England in mich aufnahm, die schweren Samtvorhänge aus Italien, die unbezahlbaren Kunstwerke aus Frankreich – und die Frauen betrachtete, die in ihrem feinsten Geschmeide glitzerten, während sie in den Armen ihrer gut gekleideten Begleiter tanzten und die Seidenschleppen ihrer importierten Abendkleider über den Boden schwebten, und die Kellner sah in ihren Cutaways, die durch das Ganze glitten und dabei die überladenen Tabletts hochhielten, wurde mir ein wenig übel. In einem Baum, der seine Äste hoch in die weglose Wildnis streckte, kreuzigte sich ein Mann selbst, den Bauch prall von Eis – und seine leeren Augenhöhlen sahen mehr als ich, und ich sah mehr als diese ignoranten Dummköpfe, die tranken und tanzten und betrunken über diejüngste Cause célèbre schwatzten. Ich konnte es nicht in Worte fassen; ich war damals bloß ein Kind. Was ich jedoch empfand war dies: Jonathan Hawks gefrorene Eingeweide kamen der allerletzten Wahrheit näher als dieses wunderschöne Spektakel.
    Eine vertraute Stimme riss mich aus meinen melancholischen Träumereien. Ich blickte auf und starrte mit leicht geöffnetem Mund in die strahlendsten Augen, die ich je gesehen habe.
    »William James Henry, stell sich einer vor, dich hier unter all diesen alten verkalkten Kerlen zu finden!«, rief Muriel Chanler aus, wobei sie dem Doktor ein Lächeln schenkte, das kürzer als ein Augenzwinkern währte. »Hallo Pellinore.« Dann zu mir: »Was ist los, bist du nicht hungrig?«
    Ich sah auf meinen unberührten Teller hinunter. »Ich glaube nicht, Ma’am.«
    »Dann musst du mir die Ehre dieses Tanzes erweisen – falls deine Karte nicht schon voll ist?«
    Das Orchester hatte einen Walzer angestimmt. Ich richtete ein verzweifeltes Auge auf den Doktor, der irgendeinen fesselnden Aspekt seiner Krabbe entdeckt zu haben schien.
    »Mrs. Chanler, ich weiß nicht, wie man tanzt …«, setzte ich an.
    »Das tut auch kein anderer Mann hier, muss ich leider sagen. Du wirst dich in ausgezeichneter Gesellschaft befinden, Will. Sie können ein Monstrum horribilis sezieren, aber den Twostepp können sie nicht meistern!«
    Sie ergriff meine verschwitzte Hand und sagte, ohne auf eine Antwort zu warten: »Darf ich, Pellinore?«
    Sie zog mich auf die Tanzfläche, woraufhin ich ihr unverzüglich auf den Zeh trat.
    »Tu deine rechte Hand hierhin«, sagte sie und legte sie sanft auf ihr Kreuz. »Und halte die linke so. Jetzt, um mich zu führen, nur ein winziger Druck mit der Rechten – nicht nötig, mir die Wirbelsäule zu zerquetschen oder mich wie eine Karre mit rostigen Rädern herumzuschieben … Oh, du bist ja ein Naturtalent, Will. Bist du sicher, dass du vorher noch nie getanzt hast?«

Ich versicherte ihr, dass es so war. Ich sah sie nicht an, sondern hielt den Kopf diskret zur Seite gewandt, denn meine Augen waren auf einer Höhe mit dem Oberteil ihres Abendkleids. Ich roch ihr Parfum; ich bewegte mich in einer fliederdurchfluteten Atmosphäre.
    Mein Walzer mit der schönen Muriel Chanler war tollpatschig – und von Anmut erfüllt. Selbstbewusst – und zurückhaltend. Aller Augen ruhten auf uns; wir tanzten in völliger Einsamkeit. Wenn sie mich sanft drehte – ich kann nicht ehrlich behaupten, dass ich viel führte –, erhaschte ich durch die den Platz wechselnden Körper Blicke auf den Doktor, der dort am Büfett stand, wo wir ihn verlassen hatten, und uns beobachtete … oder vielmehr sie. Ich glaube nicht, dass er mich beobachtete.
    Nie zuvor hatte ich mir ebenso sehr gewünscht, ein Moment möge vorübergehen, wie ich mir wünschte, er möge andauern. Sie streckte die Hand aus, machte einen Knicks und dankte mir für den Tanz. Ich drehte mich abrupt um, ängstlich bedacht darauf, in den vertrauten Wirkungskreis von jemandem zurückzukehren, der nicht ganz so himmlisch war. Sie hielt mich auf.
    »Ein richtiger Gentleman geleitet seine Partnerin von der Tanzfläche, Master Henry«, teilte sie mir lächelnd mit. »Andernfalls ist sie sich selbst überlassen und muss einen äußerst peinlichen

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