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Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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gewesen oder eine übereifrige Zurschaustellung kindlicher Treue einem geliebten Lehrer gegenüber? Was hatte Chanler dazu veranlasst, sein Leben für etwas aufs Spiel zu setzen, von dem er selbst zugab, dass es sich um eine Schimäre, ein Ammenmärchen handelte?
    Die Stimmen hoben und senkten sich wie das Wasser eines vom Frühling gespeisten Bergbachs. Ja, entschied ich, es waren ihre Stimmen, die Muriels und die des Doktors, ganz sicher. Nach einer Weile hatte ich mich von ihrer Wahrhaftigkeit überzeugt. Sie existierten nicht bloß zwischen meinen Ohren, sondern auch außerhalb.
    Ich bin nicht stolz auf das, was ich als Nächstes tat.
    Eine kurze Diele führte von unseren Schlafzimmern in die Wohnräume. Zum Glück waren die Gaslichter noch nicht angezündet, und ich legte die Strecke im Halbdunkel zurück. Langsam – oh, so langsam –, platt auf dem Boden wie ein vorrückender Marineinfanterist, robbte ich vorwärts, bis ich, bequem auf dem Bauch liegend, ungesehen aus dem Dunkel heraus die Geschehnisse verfolgen konnte.
    Sie saß auf dem Diwan und trug einen modischen Reitmantel über einem lavendelblauen Kleid aus Taffet und Samt. Obwohlvon meinem Beobachtungspunkt aus ihre schönen smaragdgrünen Augen trocken schienen, lag ein Taschentuch in ihrem Schoß. Den Doktor konnte ich nicht sehen, aber indem ich ihrem Blick folgte, ermittelte ich, dass er sich in der Nähe des Kamins aufhalten musste – stehend, wie ich ihn kannte. In Momenten der Anspannung stand der Doktor entweder oder ging wie ein Löwe im Käfig auf und ab. Und dies war eindeutig ein angespannter Moment.
    »… gestehe, dass es mir gewisse Schwierigkeiten bereitet zu verstehen, weshalb du gekommen bist«, sagte er soeben.
    »Sie bestehen darauf, ihn zu entlassen«, sagte sie.
    »Das ist lächerlich. Wieso sollten sie ihn nicht dorthaben wollen? Wünschen sie sich, dass er stirbt?«
    »Es ist Archibald – sein Vater. Er ist wütend auf dich, weil du ihn ohne seine Erlaubnis hingebracht hast. Und er hat große Angst davor, dass die Zeitungen Wind davon bekommen. Das ist auch der Grund, warum wir ihn nicht von Anfang an eingewiesen haben: Archibald wollte nichts davon wissen.«
    »Ja, wie dumm von mir«, meinte der Doktor sarkastisch, »den großen Archibald Chanler nicht zu konsultieren, bevor ich seinem Sohn das Leben gerettet habe!«
    »Du weißt, welche Ansichten er immer über Johns … Beruf gehabt hat. Er ist ihm peinlich, bringt Schande über die Familie. Archibald ist sehr stolz – kein Mann, der Spott auf die leichte Schulter nimmt. Wenigstens das müsstest du verstehen können.«
    »Es wäre klug von dir, Muriel, mich nicht zu beleidigen, während du dich bemühst, meine Hilfe zu gewinnen.«
    Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Aber du machst es mir so leicht.«
    »Nein. Du findest es zu leicht.«
    »Wenn ich es zurücknehme, hilfst du mir dann?«
    »Ich werde, so wie immer, alles in meiner Macht Stehende tun, um meinem Freund zu helfen.«
    »Mehr kann ich nicht verlangen.«
    »Ist das so?« Seine Stimme wurde leiser. »Ist das alles, was du verlangen kannst?«
    »Vielleicht nicht. Aber es ist alles, was ich für den Augenblick verlangen werde.«
    Sein langer Schatten näherte sich ihr, fiel auf ihr Gesicht – das niedergeschlagene Auge, das leicht gesenkte Kinn, den gebrochenen Ausdruck des Verlusts. Sie stand auf. Der Schatten begegnete dem Mann, und ich sah ihn auf sie zugehen, stehen bleiben; mit dem Rücken zu mir löschte er sie aus meiner Sicht.
    »Bist du darauf vorbereitet, Muriel? Sie werden ihn vielleicht nicht retten können.«
    »Ich bin seit Rat Portage darauf vorbereitet. Ich sage nicht, ›seit er zurückgekommen ist‹, denn er ist nie zurückgekommen, Pellinore. John ist nie zurückgekommen.«
    Sie fiel gegen ihn. Er schwankte auf den Absätzen nach hinten, denn er war nicht darauf gefasst, und schloss sie instinktiv in seine langen Arme. Er blickte auf sie hinab. Er konnte natürlich ihr nach oben gerichtetes Gesicht sehen; ich konnte es nicht – und wünschte, ich hätte es gekonnt.
    »Wo ist er?«, fragte sie. »Wo ist John?«
    »Muriel, du weißt, dass ich –«
    »Oh, sicher. Ich weiß genau, was du gleich sagen wirst. Du wirst sagen, dass ich hysterisch bin, dass ich ein hysterisches Frauenzimmer bin und mir meinen hübschen kleinen Kopf nicht plagen soll, dass ich es den starken und fähigen Männern überlassen soll, sich um die Dinge zu kümmern. Du wirst mir erzählen, dass es eine völlig

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