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Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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bestimmen, dessen Geschlecht seiner Natur nach nicht zu bestimmen ist. Jedoch wird das Ausmaß dieses Glücks vom Wesen des Gifts abgeschwächt: Es wirkt nämlich extrem langsam. In der Wildnis muss der Todeswurm manchmal monatelang ohne Nahrung auskommen, daher verlässt er sich auf sein Gift, um seine Beute mehr oder weniger bewegungsunfähig zu halten, während er sich – tagelang – an ihrem lebenden Fleisch gütlich tut.
    Das Gift ist narkotisch, Will Henry, bekannt für seine halluzinogenen Eigenschaften. Angehörige mongolischer Stämme sammeln es und nehmen es wegen seiner opiumartigen Wirkung in kleinen Dosen zu sich, manchmal, indem sie es in gebranntem Schnaps verdünnen oder, was gebräuchlicher ist, indem sie Schlangenknöterich rauchen, der damit behandelt worden ist. Du musst mir sofort sagen, wenn du anfängst, Dinge zu sehen, die aller Vernunft nach nicht da sein sollten, und ich werde ein wachsames Auge auf dich haben wegen Anzeichen von Paranoia und Wahnvorstellungen. Letztere stellen die größere Gefahr da, denn man könnte die Meinung vertreten, dass es sich dabei um deine normale Funktionsweise handelt. Den einen Augenblick geht es dir noch gut, und im nächsten bist du davon überzeugt, dass du fliegen kannst oder dass dir ein zweiter Kopf gewachsen ist, was in deinem Fall nicht einmal besonders schlecht wäre. Noch ein Gehirn könnte nichts schaden.«
    Er war dabei, die frühere Verletzung zu untersuchen, die Stelle an meiner Brust, wo John Chanlers Zähne sich in mich gebohrt hatten.
    »Was sonst noch?«, fragte er rhetorisch. »Nun, du wirst möglicherweise ein heftiges Brennen verspüren, wenn du urinierst. Bei besonders empfindlichen Individuen geht die Blutzirkulation zu den Extremitäten verloren, Brand setzt ein, und der Anhang muss amputiert werden. Du könntest die Haare verlieren. Deine Hoden könnten anschwellen. Es hat Fälle spontaner hämorrhagischer Imbibierungen aus den Körperöffnungen gegeben, besonders dem Anus. Deine Nieren könnten versagen, deine Lungen könnten sich mit Flüssigkeit füllen, und du könntest buchstäblich in deinem eigenen Schleim ertrinken. Habe ich irgendetwas vergessen?«
    »Ich hoffe nicht, Sir.«
    Er wrang das Tuch aus, zog mein Nachthemd nach unten und brachte die Decken um mich herum in Ordnung.
    »Und, bist du hungrig?«
    »Nein, Sir.«
    »Denkst du, es gelingt dir, dich von Schwierigkeiten fernzuhalten, während ich nach meinem anderen Patienten sehe?«
    »Lilly?« Aus irgendeinem Grund zitterte mein Herz vor Angst.
    »Wie es so oft der Fall ist, ist der Anstifter zur Missetat unversehrt davongekommen. Ich sprach von Dr. Chanler.«
    »Oh! Nein Sir, ich komme schon klar.«
    »Solltest du später Hunger bekommen, dann rufst du an der Rezeption an und lässt dir etwas hochschicken. Leichtes Essen, Will Henry, und nichts zu stark Gewürztes.«
    Das Klingeln des Telefons im vorderen Zimmer überraschte ihn. Er erwartete keinen Anruf. Er ging, um abzuheben, und kehrte gleich darauf zurück, währenddessen er sich mit den Fingern durchs Haar fuhr.
    »Ich mache die Tür jetzt zu, Will Henry. Versuch zu schlafen!«
    Ich versprach, dass ich es versuchen würde. Pflichtschuldig schloss ich die Augen. Bald hörte ich Stimmen, die aus dem Wohnzimmer kamen. Waren sie real?, fragte ich mich. Oder war es das Gift, das sprach? Die eine war tief, die eines Mannes, die Tonlage der anderen höher – offenbar die einer Frau. Muriel , dachte ich. Muriel ist gekommen, um den Doktor zu sprechen. Weshalb? War etwas mit Dr. Chanler passiert? War er schließlich seiner Krankheit erlegen? Ich bildete mir ein, sie weinen zu hören. Das Ende ist gekommen , dachte ich, und mein Herz schlugzuerst ihr und dann mit einer stechenden Anwandlung von Schmerz meinem Herrn entgegen. Vor meinem geistigen Auge sah ich ihn, wie er Meile um Meile durch die unversöhnliche Wildnis stapfte und dabei ihren Ehemann fürsorglich in den Armen hielt. Ich hörte den verzweifelten, existenziellen Schrei, der in der geräuschzermalmenden Atmosphäre ausgestoßen wurde: Warum bist du hierhergekommen? Was hast du gedacht, würdest du finden?
    Warum war er in die Wildnis gegangen? In Rat Portage schien er sich noch über von Helrungs Vorschlag und den Mann, der seiner Aussage nach dafür verantwortlich war, lustig gemacht zu haben. Warum war er dennoch aufgebrochen, um etwas zu suchen, an dessen Existenz er nicht glaubte? War es, wie der Doktor angenommen hatte, ein speichelleckerischer Akt

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