Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo
er in der Einsamkeit gewesen.
Jetzt, in ihren Augen, der Überfluss.
Manche würden sie verurteilen. Ich tue es nicht. Wenn es eine Sünde war, so war sie gerechtfertigt – der Verstoß konsekriert durch die Tat selbst. Er lernte sich kennen in der Reinheit ihrer Augen und erhielt Absolution auf ihrem Altar.
Im Vorzimmer treffen sich ihre Schatten und werden eins. Der Verhungernde isst; er trinkt sich satt an den reinen, überfließenden Wassern. Ihr süßer Atem. Ihre goldene Haut im Feuerschein. Für einen Moment wenigstens kostet er, was seine dunkle Geliebte, die, für die er diese Liebe zurückgewiesen hat, ihm nicht bieten kann. Im Überfluss ihrer smaragdgrünen Augen fand Pellinore Warthrop sich selbst endlich in einem anderen Menschen wieder.
ZWANZIG
»Ein wunderschöner Tag«
Früh am nächsten Morgen platzte er in mein Zimmer, in den Händen ein Tablett, das mit Eiern, Toast, Pfannkuchen, Würsten, Cranberry-Muffins, Apfelpasteten und Orangensaft beladen war. Meine überraschte Miene ob dieser völlig unerwarteten und uncharakteristischen Entfaltung von Freigebigkeit blieb nicht unbemerkt. Er lachte laut und stellte das Tablett mit schwungvoller Gebärde vor mich hin; er entfaltete sogar mit einem Ruck die Serviette und arrangierte sie mit großer Förmlichkeit um meinen bandagierten Hals.
»Nun, Master Henry«, rief er mit beunruhigend fröhlicher Stimme. »Du siehst fürchterlich aus!« Mit großen Schritten ging er ans Fenster und zog die Vorhänge zurück. Strahlendes Sonnenlicht durchflutete den Raum. »Aber heute ist ein wunderschöner Tag – ein wunderschöner Tag! Wahrhaftig, die Art von Tag, die in einem Mann den schlummernden Poeten weckt. Wir haben viel zu lang Trübsal geblasen, du und ich, und wir müssen daran arbeiten, unsere mürrische Einstellung zu korrigieren. Ohne Hoffnung ist ein Mann nicht besser als ein Zugpferd, das den schweren Schlitten seiner Leiden zieht.«
Er legte eine Hand auf meine Stirn. Er maß mir den Puls. Er untersuchte meine Augen. Er kicherte, als ich nahezu verständnislos das vor mir ausgebreitete Festmahl anstarrte.
»Nein, du leidest nicht an einer Halluzination. Iss auf! Ich habe beschlossen, die morgendlichen Kolloquien heute zu schwänzen und diese wunderbare Stadt ein bisschen zu erforschen. Weißtdu, dass ich seit fünfzehn Jahren hierherkomme und kaum etwas davon gesehen habe? Ich stampfe einen Weg vom Hotel zur Gesellschaft und wieder zurück, die Scheuklappen fest an Ort und Stelle wie das Zugpferd meiner Metapher, und wage mich nie vom ausgefahrenen Gleis herunter … zu sehr verliebt in die Routine – und Routine ist auch eine Art Tod. Was? Was siehst du mich so an? Tut dir der Hals zu weh, um zu sprechen?«
»Nein, Sir.«
»Was macht dein Magen? Denkst du, du kannst essen?«
Ich nahm die Gabel auf. »Ich denke schon, Sir.«
»Fabelhaft! Ich hatte mir gedacht … zuerst sollten wir die Fähre hinüber nach Liberty Island nehmen, um einen Blick auf Monsieur Bartholdis Statue zu werfen. Du musst wissen, er ist ein Freund von mir – nicht Bartholdi. Der Erbauer, Eiffel. Na ja, kein Freund direkt, mehr ein Bekannter. Eine interessante kleine Geschichte über Eiffel. Wie du weißt, findet die Weltausstellung nächstes Jahr in Paris statt, und die Regierung wollte ein angemessenes Denkmal zur Erinnerung an die Hundertjahrfeier der Revolution in Auftrag geben. Tja! Eiffel hat mir von seinen Plänen geschrieben, einen –«
Das Läuten des Telefons unterbrach ihn. Er stürmte aus dem Zimmer. Ich nippte an meinem Orangensaft – »goldener Nektar«, hatte Lilly ihn genannt – und hörte ihn sagen: »Ja, ja, natürlich. Ich bin sofort unten.«
Als er wieder in der Tür erschien, war sein ganzes Wesen verwandelt. Verschwunden waren das uncharakteristische Funkeln in seinen Augen und die außergewöhnliche Beschwingtheit seiner Schritte.
»Ich muss gehen«, sagte er.
»Warum?«, fragte ich. »Was ist passiert?«
»Es ist … du solltest hierbleiben, Will Henry. Ich weiß nicht, wie lange ich weg sein werde.«
Ich stellte das Tablett zur Seite und warf die Decken zurück. Er sah ausdruckslos zu, wie ich mich aus dem Bett mühte und schwankend in Strümpfen dastand.
»Ich fühle mich gut, Sir. Ehrlich! Bitte nehmen Sie mich mit.«
Ein junger Beamter der städtischen Polizeibehörde trat uns entgegen, als wir den Aufzug verließen. Klein von Wuchs, gekleidet in eine frisch gestärkte Uniform, mit einem roten Haarschopf und einem runden
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