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Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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auf die Wange. Er nahm es mit mehr Gleichmut hin als den Entzug ihrer Berührung. Er rührte sich kaum.
    »Ich wünschte, du wärst dort gestorben«, sagte sie sachlich.
    »Dieser Wunsch wäre fast in Erfüllung gegangen.«
    »Nicht in Kanada. In Wien. Wenn du in Wien gestorben wärst, hätte ich die trauernde Verlobte spielen und mich auf deinem frühen Grab zu Boden werfen können. John wäre jetzt glücklich mit irgendeiner spatzenhirnigen New Yorker Angehörigen der oberen Zehntausend verheiratet, und ich hätte mich wieder verliebt. Ich wäre nicht in dieser Hölle, wo ich einen Mann liebe, den ich verachte, denn solange du auf dieser Erde wandelst, werde ich dich lieben, Pellinore. Solange du irgendwo Atem holst – hier oder zehntausend Meilen von hier –, werde ich dich lieben. Ich kann nicht anders, als dich zu lieben, darum habe ich beschlossen, dich zu hassen … um meine Liebe erträglich zu machen.«
    »Muriel – du solltest das nicht –, es gibt gewisse Dinge, die wir niemals …« Zum ersten Mal in meiner Erinnerung rang der Monstrumologe um Worte. »Du solltest mir diese Dinge nicht erzählen.«
    »Nein, ich will, dass du es hörst. Ich will, dass du weißt, dass ich dich noch liebe. Ich will, dass du den Rest deines erbärmlichen Lebens darüber nachdenkst. Du hast mich für eine kalte und herzlose Geliebte verlassen, und ich will, dass du an dem Tag, da Will Henry dich ein für alle Mal verlässt, darüber nachdenkst, und jeden Tag danach, bis du alt bist und allein auf dem Sterbebett liegst, bis die Schuld beglichen ist, bis zur endgültigen Wiedergutmachung für deine Grausamkeit.«
    Wie ein Fallender, der nach allem greift, was in der Nähe ist, wie schwach es auch sei, sagte er: »Will Henry wird mich nie verlassen.«
    Ich war wieder im Bett, als er die Schlafzimmertür öffnete. Unter den Augenlidern heraus beobachtete ich, wie er mich beobachtete. Langsam schloss sich die Tür. Dann öffnete sie sich wieder. Er sagte meinen Namen. Ich antwortete nicht. Er schloss die Tür.
    Ich hörte ihre Stimmen wieder einsetzen. Oder ich glaubte es zu hören. Mir war plötzlich schrecklich heiß, und mein Atem ging schnell. Ich fragte mich, ob ich Fieber bekam. Vielleicht waren es gar nicht Stimmen, was ich hörte, sondern der Widerhall davon, die Erinnerung, die durch das Gift des Todeswurms greifbar wurde. Ich hatte mich in mein Schlafzimmer zurückgezogen, als er sie zur Tür begleitet hatte – bestimmt war Muriel gegangen. Ich fing an zu schwitzen. Paranoia … Wahnvorstellungen … brennender Urin. Ich hakte eins nach dem andern ab. Ich griff unter mein Nachthemd und betastete vorsichtig meine Hoden. Waren sie größer geworden? Woher sollte ich es wissen, falls ja? Es war ja schließlich nicht so, als würde ich sie jeden Morgen messen.
    Im Vorzimmer schwoll das Gemurmel sanft an, ging zurück. Als ich die Augen schloss, hatte ich das Gefühl von etwas sich Lösendem, einem Entgleiten, wie ein schlecht geknüpfter Knoten, der sich entwirrte, und die Stimmen wogten in dem, was in mir gelöst worden war, einer sinnlichen Strömung unter der Oberfläche der unermesslichen See, in der ich auf einmal trieb.
    Letztere stellen die größere Gefahr da … Den einen Augenblick geht es dir noch gut, und im nächsten bist du davon überzeugt, dass du fliegen kannst.
    Ich kann nicht von Dingen zeugen, die meine Augen nicht gesehen haben.
    Und ich habe nicht vor, sie in Verruf zu bringen.
    Ich weiß, dass ich nicht ich selbst war; ich weiß, dass in meinem Blut das Gift schwamm.
    Aber im Vorzimmer waren Stimmen, und dann waren keine mehr da; es gab kein Schließen der Tür oder Gutenachtwünsche.
    Im Vorzimmer senken sich die Stimmen und heben sich nicht wieder. In dem leeren Raum, wo sie gewesen waren, hebt eine Frau die smaragdgrünen Augen empor. In ihnen der Spiegel, der ihn klar umreißt, der ihm Form und Substanz gibt. Ohne ihr Licht hat sein Schatten mehr Substanz als er.
    Was haben wir gegeben?
    Er wankt allein durch eine zerklüftete Landschaft; der Wind pfeift in den ausgedörrten Knochen; es gibt kein Wasser.
    In ihren Augen: der Frühling.
    Was haben wir gegeben?
    Er hat gesehen, was das gelbe Auge sieht; er hat in der verlassenen Kathedrale inmitten ausgedörrter Knochen gebetet, in den Ruinen kniend; er hat seinen Namen vom hohen Wind ausgesprochen gehört, von den trockenen Gliedern, die auf der unfruchtbaren Luft herumklimpern.
    Er hat diese Dinge gekannt. Er ist der Monstrumologe. Zu lange ist

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