Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo
Kindergesicht, das mit Sommersprossen getüpfelt war, sah er viel zu jung für die Rolle aus, wie ein Kind, das Verkleiden spielt. Er salutierte schneidig vor Dr. Warthrop und stellte sich als Sergeant Andrew Connolly vor. Wir folgten ihm zu einem Brougham, der am Bordstein wartete.
Warthrop hatte recht gehabt. Es war ein wunderschöner Tag, kalt, aber wolkenlos, und die strahlende Morgensonne arbeitete scharfe Schatten heraus und ließ die Gebäude plastisch hervortreten. Als wir in Sichtweite der kabbeligen Wasser des East Rivers in Richtung Süden ratterten, warf ich einen verstohlenen Blick auf den Doktor und fragte mich, ob ich es wagen sollte, ihn noch einmal zu fragen, was passiert war – auch wenn ich sicher war, dass es sich nur um eines handeln konnte: John Chanler war tot.
Unsere Kutsche hielt vor einem Gebäude von Blocklänge an den Ufern des Flusses an – Bellevue, das älteste öffentliche Krankenhaus des Staates. Wir folgten Sergeant Connolly durch eine Seitentür die schwach erleuchteten Treppen zum dritten Stock hoch und dann durch einen langen, schmalen Korridor, dessen Wände in einem grässlichen, blassen Anstaltsgrün gestrichen waren. Connolly klopfte einmal an die Tür am Ende dieses deprimierenden Gangs.
Augenblicklich wurden wir von einem weiteren uniformierten Beamten eingelassen, der durch die ganze folgende angespannte Szene hindurch mit Connolly unbeweglich strammstand.
Es war eiskalt in dem Zimmer; der Herbstwind pfiff durch das zerbrochene Fenster über dem Bett. Um dessen Fuß herum hatte sich eine Traube von Kriminalbeamten in Zivil geschart,die zweien ihrer Kollegen zusahen, welche sich über etwas auf dem Boden gekauert hatten. Einer der Männer – eine imponierende Person mit einem imposanten Brustkorb und einem gleichermaßen imposanten Schnurrbart – drehte sich um, als wir eintraten. Er blickte finster drein, während seine vollen Lippen eine nicht angezündete Zigarre umklammerten.
»Warthrop. Gut. Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte er mit starkem irischen Akzent. Er hatte seiner Dankbarkeit barsch Ausdruck verliehen, eine Förmlichkeit, auf die im Gegenzug prompt verzichtet wurde.
»Oberinspektor Byrnes«, erwiderte der Doktor knapp.
»Aber was ist das?«, fragte Byrnes, indem er seinen finsteren Blick auf mich heftete. »Wer ist dieses Kind und warum ist es hier?«
»Er ist kein Kind; er ist mein Assistent«, entgegnete der Monstrumologe.
Natürlich war ich in den Augen der meisten Menschen ein Kind, aber der Doktor sah die Dinge anders als die meisten Menschen.
Byrnes grunzte unverbindlich und musterte mich unter buschigen Augenbrauen heraus, wobei die rechte Seite seines ungeheuren Schnurrbarts zuckte. Dann hob er die Schultern.
»Er ist da drüben«, sagte der oberste Kriminalbeamte der New Yorker Polizei. »Passen Sie auf, wo Sie hintreten; es ist rutschig.«
Der Mann am Fuß des Betts trat zur Seite wie ein menschlicher Vorhang, der zurückgezogen wurde. Augustin Skala lag auf seinem Rücken in einer Lache geronnenen Blutes – oder vielmehr was von ihm noch übrig war. Ich hätte ihn vielleicht gar nicht erkannt, wären da nicht die Größe des Mannes und der zerlumpte Kolani gewesen, denn Augustin Skala hatte kein Gesicht und keine Augen mehr. Die leeren Höhlen nahmen die leere Leinwand der gebrochen weißen Deckenplatten aufs Korn.
Sein Hemd war aufgerissen worden, sodass der haarigeRumpf frei lag, in dessen Mitte ein Loch von der Größe einer Kuchenplatte gähnte. Aus dem ausgefransten Rand des Loches ragte ein Stück seines Herzes heraus, das teilweise aus der Verankerung gerissen worden war und dem ansehnliche, bissgroße Brocken fehlten.
Dieses Herz war es, das Warthrops Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Ohne auf das klebrige Blut zu achten, kniete er neben der Leiche nieder, um sie zu untersuchen.
»Die Schwester fand ihn gegen sieben Uhr heute Morgen«, sagte Byrnes.
»Wo haben Sie Chanler hingebracht?«, fragte der Doktor, ohne sich von seiner Aufgabe abzuwenden.
»Ich habe ihn nirgends hingebracht. Dr. Chanler ist gegangen.«
»Gegangen?« Warthrop sah jäh zu ihm hoch. »Was meinen Sie damit – wohin gegangen?«
»Ich hatte gehofft, Sie könnten mir bei der Antwort auf diese Frage helfen.«
Die Tür wurde aufgerissen, und von Helrung eilte ins Zimmer; sein breites Gesicht war gerötet, und seine Haare wehten unordentlich um seinen kantigen Kopf herum.
»Pellinore! Gott sei Dank, du bist da! Ach, es ist schrecklich.
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