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Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Titel: Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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dergleichen von sich gegeben; oder, mein Favorit, er habe etwas völlig anderes gesagt und ich ihn falsch verstanden. Das war schon eher der Pellinore Warthrop, den ich im Lauf der Zeit kennengelernt hatte, und irgendwie war mir diese vertraute Version lieber. Sie war vorhersagbar und deshalb tröstlich. Meine Mutter, so strenggläubig wie jede Neuengland-Frau puritanischer Abstammung, sprach gerne von »den Tagen, da der Löwe beim Lamm liegt«. Auch wenn ich die Theologie dahinter verstehe, so bringt das Bild mir doch keinen Frieden; es ruft in mir Bedauern für den Löwen hervor. Es beraubt ihn seiner Essenz, dem fundamentalen Teil seines Seins. Ein Löwe, der sich nicht wie ein Löwe benimmt, ist kein Löwe. Er ist nicht einmal das Gegenteil eines Löwen. Er ist die Verhöhnung eines Löwen.
    Und Pellinore Warthrop, wie dieser Löwe – oder sein Schöpfer! –, wird nicht verhöhnt.
    »Ich streite nicht ab, bekräftigt zu haben, was ich schon oft gesagt habe, Will Henry, und das ist, dass sich, im Allgemeinen , deine Dienste eher als unentbehrlich wie als nicht unentbehrlich erwiesen haben. Ich habe nie etwas anderes behauptet. Ich war immer dafür, Schulden anzuerkennen, wo Schulden bestehen.Man muss jedoch achtgeben, nichts … nun, in Ermangelung eines besseren Wortes, Übertriebenes daraus abzuleiten.«
    Und dann pflegte er abrupt das Thema zu wechseln.
    * * *
    Ich verbiete dir, mich zu verlassen .
    Sie kam mir recht plötzlich vor, meine Fügung in seine Verfügung. In einem Moment konnte ich mich und ihn und das Zimmer sehen – und viel, viel mehr. Ich sah … alles. Ich sah unser Haus in der Harrington Lane; ich sah unsere Stadt New Jerusalem; ich sah Neuengland. Ich sah Ozeane und Kontinente und die Erde, die sich um die Sonne drehte. Ich sah die Monde des Jupiters und die Milchstraße und die unermesslichen Tiefen des Raums. Ich sah das ganze Universum. Ich hielt es ganz in meiner Hand.
    Und im nächsten Moment lag ich im Bett mit rasenden Kopfschmerzen und einem pochenden Schmerz in der linken Hand. Und Warthrop schlief tief und fest im Sessel neben mir. Ich räusperte mich; mein Mund war trocken wie eine Wüste.
    Er wachte augenblicklich auf, in den Augen einen irren Blick, als sähe er ein Gespenst.
    »Will Henry?«, krächzte er.
    »Ich habe Durst«, sagte ich.
    Zuerst sagte er nichts. Er starrte mich weiter an, bis sein Starren mich entnervte.
    »Tja, nun, Will Henry, dann will ich dir ein Glas Wasser holen.«
    Nachdem ich ein wenig Wasser und schlückchenweise etwas lauwarme Brühe getrunken hatte, stellte er das Tablett auf den Nachttisch (der Revolver war verschwunden, ebenso wie die Stricke) und sagte, er müsse den Verband an meiner Wunde wechseln.
    »Du brauchst nicht hinzusehen – es sei denn, du möchtest. Es ist ein sauberer Schnitt, eine wirklich außergewöhnliche Amputation in Anbetracht der Umstände.«
    »Wenn es Ihnen gleich ist, Dr. Warthrop …«
    »Aber sicher. Es wird dich freuen zu erfahren, dass es keine Spur einer Infektion gibt. Die Operation wurde ja nicht unter den hygienischsten Bedingungen durchgeführt, wie du weißt. Ich rechne mit einer vollständigen Genesung.«
    »Es fühlt sich gar nicht an, als ob er fort wäre.«
    »Das ist normal.«
    »Was ist normal?«
    »Hm.« Er untersuchte sein Werk. »Ja, verheilt sehr schön. Wir haben außerordentliches Glück, dass es dein linker Zeigefinger ist, Will Henry.«
    »Haben wir?«
    »Du bist doch Rechtshänder, oder nicht?«
    »Ja, Sir. Ich nehme an, da haben wir Glück gehabt.«
    »Nun, ich sage ja nicht, dass du dankbar sein solltest.«
    »Aber ich bin dankbar, Dr. Warthrop. Sie haben mir das Leben gerettet.«
    Schweigend beendete er das Anlegen des frischen Verbands. Die Bemerkung schien ihm Verdruss zu bereiten. Dann sagte er: »Das würde ich gern glauben. Die nackte Wahrheit ist, dass es vielleicht keinen Grund dafür gab. Du weißt nicht, ob Mr Kendall der Urheber deiner Verletzung war, und ich weiß nicht, was geschehen wäre, falls er es war – wenn überhaupt etwas geschehen wäre. Wenn man mit dem Unbekannten konfrontiert wird, ist es am besten, die vorsichtigste Herangehensweise zu wählen. Das ist in der Theorie ja alles gut und schön, aber das Endergebnis ist, dass ich ein Fleischermesser genommen und dir den Finger abgehackt habe.«
    Unbeholfen tätschelte er mein Knie und stand auf, wobei er zusammenzuckte und sich mit einem Stöhnen die Hände ins Kreuz drückte.
    »Wenn du mich jetzt

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