Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes
kenne – oder zu viel von Ihnen gehört habe, sollte ich lieber sagen. Wenn Sie den Ursprung des Etwas kennen würden, wären Sie nicht in New York. Sie hätten das Etwas Dr. von Helrung geschickt, um es im Verschlossenen Raum unterbringen zu lassen, und sich auf dem ersten Ozeandampfer eingeschifft.«
»Aber wieso ausgerechnet England?«
»England ist bloß geraten, das will ich zugeben. Frankreich konnte ich ausschließen: Das französische Kontingent der Gesellschaft hat sich noch nie viel aus uns Yanks gemacht – und erst recht nicht nach jenem unglücklichen Zwischenfall letzten Herbst mit Monsieur Gravois, an dem man, wie ich gehört habe, Ihnen die Schuld gibt, zu Unrecht meiner Meinung nach. Die Deutschen würden niemals einem Amerikaner einen Nidus anvertrauen – selbst wenn sein Name Pellinore Warthrop ist. Die Italiener – na ja, es sind halt Italiener. England war die logischste Wahl.«
»Außerordentlich«, murmelte Warthrop mit beifälligem Nicken. »Wirklich außerordentlich, Mr Arkwright! Und genau richtig in sämtlichen Einzelheiten, da will ich Sie nicht in die Irre führen.« Er wandte sich an von Helrung. »Meinen Glückwunsch, Meister Abram. Mein Verlust scheint dein Gewinn zu sein.«
Der österreichische Monstrumologe setzte ein breites Lächeln auf. »Er erinnert mich an einen anderen vielversprechenden Schüler von vor vielen Jahren. Ich gestehe, dass ich mich in meiner Senilität manchmal vergesse und ihn Pellinore nenne.«
»Oh, ich hoffe doch nicht!«, meinte mein Herr mit uncharakteristischer Bescheidenheit. »Das würde ich niemandem wünschen – oder der Welt. Einer ist genug!«
* * *
Thomas ging nicht eher, bis der Doktor und ich uns auf den Weg zum Hotel machten; ich nehme an, im Überschwang des Augenblicks vergaß er seinen demütigen Wunsch, den bedeutenden Mann nicht bei seinen wichtigen wissenschaftlichen Angelegenheiten aufzuhalten. Der bedeutende Mann selbst schien die dringenden Angelegenheiten vergessen zu haben, denn er war völlig vertieft in eine Unterhaltung, die sich ganz um ihn oder diese einzigartige Erweiterung seiner selbst namens Monstrumologie drehte.
Und Arkwright schien ein Experte für beides zu sein. Mit Bereitwilligkeit demonstrierte er ein enzyklopädisches Wissen über alles Warthrop’sche – seine kränkliche Kindheit in Neuengland; die »verlorenen Jahre« im Londoner Internat; die Vormundschaft unter von Helrung; die frühen Abenteuer in Amazonien, im Kongo und »jene Unglücksexpedition nach Sumatra«; seine unschätzbaren Beiträge zur Encyclopedia Bestia (mehr als ein Drittel der Artikel waren von Warthrop geschrieben oder mitgeschrieben); sein Eintreten für die Sache bei der allgemeineren Welt der Naturwissenschaften. Der Monstrumologe trank in vollen Zügen von dem speichelleckerischen Trank, bis er regelrecht betrunken war. Es hatte über dreißig Jahre gedauert, aber endlich sah es so aus, als hätte er jemanden kennengelernt, der Pellinore Warthrop ebenso sehr bewunderte wie er selbst.
In der Tat, die Luft im Zimmer war so gesättigt mit Warthrop, dass mir das Atmen schwerfiel. Von Helrung bemerktemein Unbehagen und schlug, mit gedämpfter Stimme, einen Raubzug in die Küche für einen Überfall auf den Speiseschrank vor. Freudig nahm ich den Auftrag an, und wir stürmten die Vorratskammer, wo wir zwei Platten voll süßem Gebäck und zwei dampfende Tassen heißer Schokolade eroberten.
»Er ist sehr klug«, sagte von Helrung, womit er sich auf Thomas Arkwright bezog. »Aber man kann nur einen Moment in die Sonne schauen, und dann … Blindheit! Häufige Pausen sind erforderlich, aber du musst ja wissen, was ich meine, Will. Pellinore ist ja genauso.«
Ich nickte langsam und mied dabei seinen Blick. Er begriff sofort und sagte leise und mit großem Mitgefühl: »Ihm zu dienen, das weiß ich, ist hart. Männer wie Pellinore Warthrop – man muss äußerste Vorsicht walten lassen oder sich von ihrem funkelnden Geist vereinnahmen lassen. Das Schicksal deines Vaters, fürchte ich. In der Gegenwart von Männern wie Warthrop wird das kleinere Licht vom größeren verzehrt.«
»Woher weiß Thomas so viel über ihn?«, fragte ich. In einer halben Stunde hatte ich von einem Fremden mehr über den Monstrumologen erfahren als nach zwei Jahren des Zusammenlebens mit ihm.
»In erster Linie von mir. Den Rest von allen und jedem, die über ihn reden.«
»Na ja, alles über ihn weiß er nicht«, sagte ich. »Er wusste nicht, dass der
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