Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes
Doktor schon einen Lehrling hatte.«
»Ja, das kam mir auch sonderbar vor. Er wusste es nämlich schon; ich habe es ihm bei unserem ersten Zusammentreffen vor vierzehn Tagen erzählt. Womöglich hat er es vergessen.«
»Oder er lügt.«
»Ist das klug, Will? Wenn wir vor der Wahl stehen, sollten wir da nicht immer den guten Beweggrund dem schlechten bevorzugen? Wahrscheinlich war es ihm nicht wichtig, also hat er es vergessen.« Ihm nicht wichtig! Ich schob meinen Teller weg; mir war der Appetit vergangen.
»Nein, nein, iss, iss!«, sagte er und schob mir den Teller wieder hin. »Du bist bei Weitem zu schmächtig für einen Jungen von zehn.«
»Ich bin dreizehn«, rief ich ihm ins Gedächtnis.
»Dann bist du viel zu dünn. Ein heranwachsender Knabe ist wie ein Heer, ja ? Er reist auf seinem Magen! Ich muss mit Pellinore darüber reden. Ich nehme nicht an, dass er besonders viel kocht.«
»Er kocht überhaupt nicht. Wir hatten immer eine Köchin«, fügte ich hinzu, »aber der Doktor hat sie gefeuert. Sie hat eins seiner Exemplare gekocht.«
Das war die Wahrheit. Am Abend, bevor er sie an die Luft gesetzt hatte, war eine Zustellung an der Küchentür angekommen, und die Köchin, eine liebenswürdige alte Frau namens Paulina, die nahezu blind war (Warthrop betrachtete das als eindeutiges Plus), hatte sie fälschlich für eine Bestellung gehalten, die sie beim Fleischer, Mr Noonan, aufgegeben hatte. An jenem Abend aßen wir den Kadaver des seltenen Hallux turpis aus Kappadokien, den Paulina in ein herzhaftes Schmorgericht verwandelt hatte. Als dem Doktor zu seinem Entsetzen klar wurde, dass er einen der meistbegehrten Preise der Monstrumologie verzehrt hatte, feuerte er sie selbstverständlich auf der Stelle. Anschließend, nachdem er sich beruhigt hatte, räumte er ein, dass es kein kompletter Verlust für die Wissenschaft war: Wir hatten herausgefunden, dass Hallux turpis Hühnchen im Geschmack bemerkenswert ähnlich war.
»Ich mache alles für ihn«, sagte ich mit einem unbequemen Knoten aus Stolz und Unmut im Herzen. »Alles Kochen und Saubermachen und das Waschen, und ich schreibe seine Briefe und mache die Besorgungen und führe seine Akten und kümmere mich um die Pferde, und natürlich assistiere ich ihm im Laboratorium – das auch. Ganz besonders das.«
»Ja nun! Ich staune, dass du noch Zeit für deine Studien hast!«
»Meine Studien, Sir?«
»Gehst du denn nicht zur Schule?«
»Nicht, seitdem ich zu ihm gekommen bin.«
»Dann gibt er dir Privatunterricht, richtig? Er muss dir Privatunterricht geben. Nein?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht.«
»Du glaubst nicht!« Er schnalzte missbilligend mit der Zunge.
»Er setzt mich nicht mit Büchern und Stiften hin und erteilt mir Lektionen – so was nicht. Aber er versucht schon, mir Sachen beizubringen.«
»Sachen? Was für Sachen versucht er dir beizubringen, Will? Was hast du von ihm gelernt?«
»Ich habe gelernt …« Was hatte ich gelernt? Plötzlich konnte ich mich an nichts mehr erinnern. Was hatte der Monstrumologe mir beigebracht? »Ich habe gelernt, dass die halbe Welt betet, dass sie bekommt, was sie verdient, und die andere Hälfte, dass sie es nicht bekommt.«
»Mein Gott!« , rief der einstige Lehrer meines Lehrers laut aus. »Ich weiß nicht, ob ich über diese Antwort lachen oder weinen soll! Aber so ist es mit der Wahrheit.«
Er ging zum Herd, kehrte mit der Kanne heißer Schokolade zurück und schenkte mir randvoll ein; dann verfuhr er mit seiner Tasse genauso und brachte die Nase dicht an die schlammfarbene Oberfläche, um den Duft einzuatmen; der Dampf färbte seine Wangen rosig. Er sah mich durch den Dampf an und lächelte.
»Ich liebe Schokolade! Du nicht auch?«
Einen winzigen Moment lang wollte ich die Arme um ihn schlingen und ihn drücken.
»Dr. von Helrung, Sir?«
» Ja ?«
Ich senkte die Stimme. Ich dachte nicht darüber nach; es schien irgendwie angemessen. »Was ist Typhoeus magnificum ?«
Sein Lächeln verschwand. Er schob die Tasse weg und verschränkte die Hände auf dem Tisch. Es kam mir vor, als schrumpfte der Raum zwischen uns, bis ich nur noch eine Haaresbreite von seinem transzendenten Antlitz entfernt war.
»Das ist schwer zu sagen – ganz schwer. Nur seine Opfer haben ihn gesehen, und die, für immer stumm, bewahren seine Geheimnisse.
Wir wissen, dass er existiert, denn wir haben den Nidus in Händen gehalten und wir haben – wie du ja zu deinem Unglück auch – die
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