Der Montagsmann: Roman (German Edition)
dorthin, wo sie seinen Herzschlag spüren konnte. Sie schaute zu ihm auf und suchte in seinem Gesicht einen Ausdruck oder eine Regung, ohne genau zu wissen, wonach sie Ausschau hielt. Sie hoffte trotzdem, es zu finden, auch wenn sie keine Ahnung hatte, was es war.
»Fabio«, sagte sie hilflos.
Sein Blick verdunkelte sich. Verlangen und Lust, Empfindungen, die sie schon bei ihm gesehen hatte, aber dann fand sie auch das andere. Etwas Tieferes, Sanfteres, ein Gefühl, das ihr wärmer und verheißungsvoller erschien als die Begierde, die sie beide seit Wochen zueinander zog.
Er drückte sie an sich und legte seine Hand um ihren Hinterkopf, um ihr Gesicht an seine Brust zu ziehen, dorthin, wo ihre Nase sich genau in die Mulde über seinem Schlüsselbein graben und sie seinen Geruch einatmen konnte, während ihre Stirn die glatte Wärme seines Halses spürte und ihr Kinn den oberen Bogen seiner Rippen berührte. Sie legte die Arme um ihn, um ihm ganz nah zu sein, so nah, dass es ihr wieder leicht fiel, alles andere einfach zu vergessen. Sich vorzustellen, dass es nie anders zwischen ihnen gewesen war.
»Was ist?«, meinte er sanft. »Du wolltest mich doch noch was fragen, oder?«
Ja, das wollte sie. Sie wollte ihn nach dieser Frau fragen, die gestern Nachmittag hier gewesen war, doch sie brachte es nicht fertig.
»Die Fotos«, meinte sie leise. »Wollen wir uns die zusammen ansehen, und du erzählst mir ein bisschen über dich?«
Sie meinte, ein schwaches Seufzen von ihm wahrzunehmen, doch darin konnte sie sich auch geirrt haben, denn nach ein paar Atemzügen schob er sie leicht von sich und lächelte sie bereitwillig an. »Natürlich. Ich habe auch noch andere Fotos, von früher. Wir können sie gern anschauen, und du fragst alles, was du wissen möchtest.«
Sie setzten sich nebeneinander auf sein Bett und betrachteten die Fotos. Bei der Frau handelte es sich tatsächlich um seine Mutter. Sie hieß klassisch und schlicht Maria und war dreiundfünfzig. Auf einigen der Bilder war auch ihr Mann zu sehen, Fabios Stiefvater und Inhaber des Restaurants, in dem er kochen gelernt hatte. Fabio holte weitere Fotos aus dem Nachttisch, auf denen er jünger war und die ihn teilweise mit Kollegen in Kochmontur zeigten, als lachenden, hoffnungsvollen jungen Künstler der feinen Küche.
Isabel stellte Fragen zu seiner Laufbahn, ließ aber alles aus, was ihr zu privat erschien.
Nur nicht zu tief bohren, dachte sie, denn wer konnte schon voraussehen, was dabei zu Tage trat!
Sie musste daran denken, worüber sie heute mit Doktor Mozart gesprochen hatte. Ja, es ließ sich nicht leugnen. Sie hatte Angst, und gleichzeitig wusste sie, dass diese Angst nicht unbegründet war. Tief im Inneren spürte sie, dass ihr einschneidende Veränderungen bevorstanden.
Fabio holte weitere Fotos aus den Tiefen seines Schranks, ein altes Steckalbum mit Kinderbildern.
Er zeigte ihr ein Gruppenbild mit artig aufgestellten Kindern.
»Das war ich bei meiner Einschulung.«
Sie betrachtete das Foto. Augenblicklich verflüchtigte sich ihre melancholische Stimmung und machte ehrlicher Begeisterung Platz. Sie zeigte auf einen breit grinsenden, rettungslos verstrubbelten Jungen in der zweiten Reihe. »Wie niedlich! Bist du das?«
»Klar, erkennt man das nicht?«
»Hm, die Augen und die Ohren … Doch ja, schon.« Sie kicherte. »Aber so ganz ohne Zähne …«
Er lachte. »Ja, das war Pech. Sie sind alle innerhalb von ein paar Wochen ausgefallen, und es hat ziemlich lange gedauert, bis die neuen da waren. In der ersten Klasse nannten mich alle Fabio Ohnezahn. Ich war noch jahrelang sauer, weil ich so gegrinst habe, als der Fotograf uns knipste.«
»Die anderen lächeln doch auch.«
»Ja, aber die mit den Zahnlücken waren schlauer und haben den Mund dabei nicht aufgemacht.«
Sie blätterte in dem Album und betrachtete ein anderes Foto. »He, das sieht ja sportlich aus! Ein super Fahrrad hattest du da! Ein echtes Mountainbike, oder?«
»Äh … Ja.«
»Und der kleine Dicke da neben dir … der schaut ziemlich unglücklich drein. Was war los mit ihm? Hm, vielleicht lag es am Fahrrad, oder? Sieht aus wie ein Damenrad.« Isabel verengte die Augen. »Kommt mir irgendwie bekannt vor … Nein, das kann nicht sein, oder? Sag bloß, das ist dein komischer Cousin Giulio?«
»Doch, er ist es«, sagte Fabio.
»Und jetzt ist er immer noch neidisch auf dich. Du hattest das schöne Fahrrad, die Erbschaft von eurer Oma und Raphaela. Das konnte und kann er nicht
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